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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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war.
    »Dort mussten wir alte Bettlaken für Verbände in Streifen schneiden. Du solltest mal die Blase sehen, die ich auf meinem Daumen habe. Ein richtiges Monstrum.« Solche Rundumfiktionen hatte sie nicht von Anfang an geschrieben. Zunächst hatte Tessie noch ehrliche Schilderungen ihrer Tage verfasst. Aber in einem Brief hatte Michael Antoniou gesagt:
    »Filme sind eine schöne Unterhaltung, aber jetzt, wo Krieg ist, weiß ich nicht, ob man seine Zeit am besten damit zubringt.« Danach begann Tessie, Sachen zu erfinden. Sie rechtfertigte ihre Lügen, indem sie sich sagte, dies sei ihr letztes Jahr in Freiheit. Ab dem nächsten Sommer werde sie Priesterfrau sein und irgendwo in Griechenland leben. Um ihre Unaufrichtigkeit zu mildern, lenkte sie in ihren Briefen jede Ehre von sich ab und lobte Zoe' über den grünen Klee. »Sie arbeitet sechs Tage die Woche, aber sonntags steht sie in aller Frische auf und bringt Mrs. Tsontakis zur Kirche - die Ärmste ist dreiundneunzig und kann kaum noch gehen. So ist Zoe. Denkt immer an andere.«
    Auch Desdemona und Milton schrieben einander. Bevor mein Vater in den Krieg zog, hatte er seiner Mutter versprochen, endlich Griechisch lesen und schreiben zu lernen. Als er dann in Kalifornien in seiner Koje lag und ihm alles so weh tat, dass er sich kaum regen konnte, bastelte Milton mit Hilfe eines Englisch-Griechischen Wörterbuchs Berichte über sein Leben bei der Navy zusammen. Doch so sehr er sich auch konzentrierte, war in seinen Briefen, als sie in der Hurlbut Street eintrafen, bei der Übersetzung etwas verloren gegangen.
    »Was ist denn das für ein Papier?«, fragte Desdemona ihren Mann und hielt einen Brief hoch, der einem Schweizer Käse ähnelte. Wie Mäuse hatten die Militärzensoren an Miltons Briefen geknabbert, bevor Desdemona sie sich zu Gemüte führen konnte. Jede Erwähnung des Wortes »Invasion«, jeden Bezug auf »San Diego« oder »Coronado« hatten sie herausgebissen. Durch ganze Absätze, die die Marinebasis, die Zerstörer und U-Boote am Kai beschrieben, hatten sie sich durchgefressen. Da das Griechisch der Zensoren noch schlechter als das Miltons war, hatten sie viele Fehler gemacht, Koseworte und -zeichen weggerissen.
    Trotz der (syntaktischen wie realen) Lücken in Miltons Schreiben erfasste meine Großmutter die Gefährlichkeit seiner Lage. Seine gekritzelten Sigmas und Deltas offenbarten ihr die zitternde Hand ihres zunehmend besorgten Sohnes. In seinen Grammatikfehlern entdeckte sie den Hauch der Angst in seiner Stimme. Allein das Briefpapier jagte ihr Angst ein, weil es schon ganz zerschossen aussah.
    Matrose Stephanides dagegen tat sein Möglichstes, um Verletzungen vorzubeugen. An einem Mittwochmorgen meldete er sich in der Bücherei des Stützpunkts, um an der Zulassungs prüfung für die amerikanische Marineakademie teilzunehmen. Im Verlauf der folgenden fünf Stunden sah er, jedes Mal wenn er von seinem Prüfungsbogen aufblickte, seine Schiffskame raden in der sengenden Sonne Gymnastikübungen machen. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Während seine Kumpel draußen brieten, saß Milton unter einem Deckenventilator und führte einen mathematischen Beweis. Während sie gezwungen wurden, das sandige Spielfeld auf und ab zu rennen, las Milton einen Absatz von einem gewissen Carlyle und beantwortete die anschließenden Fragen. Und in der Nacht, wenn sie an die Klippen gedonnert würden, läge er kuschelig schlafend in seiner Koje.
    Als die ersten Monate des Jahres 1945 anbrachen, bemühte sich jedermann um Befreiung vom Dienst. Meine Mutter schwänzte karitative Aufgaben, indem sie ins Kino ging. Mein Vater drückte sich vor dem Manöver, indem er eine Prüfung ablegte. Meine Großmutter aber strebte nach einer Befreiung durch nichts Geringeres als den Himmel selbst.
    An einem Sonntag im März fand sie sich lange vor Beginn der Heiligen Messe in der Himmelfahrtskirche ein. Sie ging in eine Nische, trat vor die Ikone des heiligen Christophorus und schlug ihm einen Handel vor. »Bitte, heiliger Christophorus« - Desde mona küsste sich auf die Fingerspitzen und legte sie dem Heiligen auf die Stirn -, »wenn du Miltie sicher durch den Krieg führst, nehme ich ihm das Versprechen ab, nach Bithynios zu gehen und die Kirche zu reparieren.« Sie blickte zu dem heiligen Christophorus auf, dem Märtyrer Kleinasiens. »Wenn die Türken sie zerstört haben, baut er sie wieder auf. Wenn sie nur gestrichen werden muss, streicht er sie.« Der heilige

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