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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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forderte Präsident Johnson auf, Bundestruppen zu schicken, und Johnson, ein Demokrat, sagte, er sehe sich »außerstande«, etwas Derartiges zu tun. (Im Herbst stand eine Wahl an. Je schlimmer die Krawalle wurden, desto schlechter würde Romney abschneiden. Bevor er also Fallschirmjäger losschickte, schickte Präsident Johnson Cyrus Vance los, damit er die Lage beurteilte. Beinahe vierundzwanzig Stunden vergingen, bis Bundestruppen eintrafen. Bis dahin schoss die unerfahrene Nationalgarde wild in der Stadt herum.)
    Drei Tage lang badeten wir nicht und putzten uns auch nicht die Zähne. Drei Tage lang waren alle normalen Rituale eingestellt, dagegen wurden halb vergessene wie Beten wieder aufgefrischt. Desdemona sprach die Gebete auf Griechisch, während wir rings um ihr Bett versammelt waren, und Tessie versuchte wie gewöhnlich, ihre Zweifel zu zerstreuen und wahrhaft zu glauben. Das Nachtlicht enthielt kein Öl mehr, es war eine Glühbirne.
    Drei Tage lang blieben wir ohne Nachricht von Milton. Wenn Tessie von ihren Ausflügen nach unten zurückkam, entdeckte ich, neben den Spuren von Tränen auf ihrem Gesicht, zunehmend auch die leiser Schuldgefühle. Der Tod lässt die Menschen immer praktisch werden. Während Tessie also im Erdgeschoss gewesen war und nach Nahrung gesucht hatte, hatte sie auch Miltons Schreibtisch durchwühlt. Sie hatte die Konditionen seiner Lebensversicherung gelesen. Sie hatte den Stand des Pensionskontos nachgeschaut. Im Badezimmer hatte sie ihr Aussehen begutachtet, sich überlegt, ob sie in ihrem Alter auf einen anderen Mann noch anziehend wirken konnte. »Ich musste ja an euch Kinder denken«, gestand sie mir Jahre später. »Ich habe mir überlegt, was wir tun würden, wenn euer Vater nicht zurückkommt.«
    In Amerika zu leben hatte bis dahin bedeutet, weit weg vom Krieg zu sein. Kriege fanden in südostasiatischen Dschungeln statt. In Wüsten im Mittleren Osten. Sie fanden, wie es in dem alten Soldatenlied heißt, dort drüben statt. Aber warum sah ich dann, als ich am Morgen nach unserer zweiten Nacht in der Mansarde aus dem Fenster spähte, einen Panzer an dem Rasen vor unserem Haus vorbeirollen? Einen grünen Armeepanzer, ganz allein in den langen Morgenschatten, und seine mächtigen Ketten rasselten über den Asphalt. Ein gepanzertes Militärfahrzeug, das auf kein größeres Hindernis stieß als einen vergessenen Rollschuh. Der Panzer rollte an den herrschaftlichen Häusern vorbei, den Giebeln und Türmchen, den Vordächern. Er hielt kurz am Stoppschild. Der Kanonenturm blickte in beide Richtungen, wie ein Fahrschüler, dann fuhr der Panzer weiter.
    Was geschehen war: Am späten Montagabend hatte Präsident Johnson schließlich Gouverneur Romneys Forderung nachgegeben und Truppen geschickt. General John L. Throckmorton hatte das Hauptquartier der 101. Luftlandebrigade in der Southeastern High aufgeschlagen, der Schule, auf die meine Eltern gegangen waren. Obwohl die heftigsten Krawalle in der East Side waren, beschloss General Throckmorton, seine Fallschirmjäger in der West Side zu stationieren, eine Entscheidung, die er »einsatzbedingt zweckmäßig« nannte. Am Dienstag früh rückten die Fallschirmjäger vor, um die Unruhen zu ersticken.
    Niemand sonst war wach, keiner sonst sah den Panzer. Meine Großeltern schliefen im Bett. Tessie und Pleitegeier lagen zusammengerollt auf Luftmatratzen auf dem Fußboden. Sogar die Sittiche waren still. Ich weiß noch, wie ich auf das Gesicht meines Bruders blickte, das aus seinem Schlafsack lugte. Auf dem Flanellfutter schossen Jäger auf Enten. Dieser maskuline Hintergrund betonte nur Pleitegeiers Mangel an Heldenmut. Wer sollte meinem Vater zu Hilfe kommen? Auf wen konnte mein Vater sich verlassen? Auf Pleitegeier mit seiner Colaflaschenbrille? Auf Lefty mit seiner Tafel und seinen sechzig nochwas? Was ich dann tat, hatte, glaube ich, nichts mit meiner Chromosomenstruktur zu tun. Es resultierte nicht aus dem hohen Testosteron-Plasmawert in meinem Blut. Ich tat, was jede liebevolle, loyale Tochter getan hätte, die mit lauter Herkulesfilmen groß geworden war. In jenem Augenblick fasste ich den Entschluss, meinen Vater zu suchen, ihn, falls nötig, zu retten oder ihm wenigstens zu sagen, er solle nach Hause kommen.
    Ich bekreuzigte mich nach Art der Orthodoxen, schlich die Mansardentreppe hinunter und schloss hinter mir die Tür. In meinem Zimmer zog ich Turnschuhe an und setzte meine Ame- lia-Earhart-Fliegermütze auf. Ohne jemanden zu

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