Middlesex
wecken, stahl ich mich durch die Haustür, rannte zu meinem Fahrrad, das an der Hausseite stand, und strampelte los. Zwei Straßen weiter sah ich den Panzer: Er hatte vor einer roten Ampel angehalten. Die Soldaten drinnen waren mit dem Studium ihrer Karten beschäftigt, um die beste Route zu den Krawallen ausfindig zu machen. Das kleine Mädchen mit der Fliegermütze, das sich auf einem Bonanzarad heranpirschte, bemerkten sie nicht. Es war noch dunkel. Die Vögel fingen an zu singen. Von Rasen und Mulch stiegen Sommergerüche in die Luft, und auf einmal verlor ich die Nerven. Je weiter ich mich dem Panzer näherte, desto größer wurde er. Ich bekam Angst und wollte zurück nach Hause rennen. Aber dann wurde es grün, und der Panzer kroch voran. Auf den Pedalen stehend, raste ich hinterher.
Auf der anderen Seite der Stadt, in dem unbeleuchteten Zebra Room, versuchte mein Vater, wach zu bleiben. Hinter der Kasse verbarrikadiert, den Revolver in der einen Hand, ein Schinkensandwich in der anderen, blickte Milton zum vorderen Fenster hinaus, um zu sehen, was sich auf der Straße tat. Während der vergangenen zwei Nächte waren die Ringe unter Miltons Augen mit jeder Tasse Kaffee, die er trank, dunkler geworden. Seine Lider hingen auf halbmast, doch seine Stirn war feucht vom Schweiß angespannter Wachsamkeit. Er hatte Magenschmerzen. Er musste allerdringendst auf die Toilette, wagte es aber nicht.
Draußen waren sie wieder am Werk: die Heckenschützen. Es war beinahe fünf Uhr morgens. Jeden Abend zog die untergehende Sonne, wie der Ring an einer Jalousie, die Nacht über das Viertel. Dann kehrten die Heckenschützen aus ihren Verstecken zurück, in denen sie den heißen Tag über hockten. Sie nahmen ihre Positionen ein. Aus den Fenstern zum Abbruch freigegebener Hotels, von Feuerleitern und Balkonen, aus dem Schutz von Autos, die in Vorgärten aufgebockt standen, richteten sie die Läufe ihrer Waffen. Wenn man genauer hinsah, wenn man mutig oder leichtsinnig genug war, um zu dieser Nachtzeit den Kopf aus dem Fenster zu strecken, konnte man im Schein des Mondes - jenem anderen Zugring, der nach oben ging - Hunderte Waffen schimmern sehen, die auf die Straße gerichtet waren, auf der die Soldaten nun vorrückten.
Das einzige Licht im Diner kam von dem roten Schein der Musikbox. Sie stand auf der einen Seite der Eingangstür, eine DiscoMatic aus Chrom, Plastik und Buntglas. Durch ein kleines Fenster konnte man den roboterhaften Wechsel der Platten sehen. In einem Kreislaufsystem stiegen, die Ränder der Musikbox entlang, dunkelblaue Blasen auf. Blasen, die für das überschäumende amerikanische Leben, für unseren Nachkriegsoptimismus, für unsere zischenden, großartigen, mit Kohlensäure versetzten Getränke standen. Blasen, voll mit der heißen Luft amerikanischer Demokratie, die von den gestapelten Vinylscheiben im Innern hochblubberten. Vielleicht »Mama Don't Allow It« von Bunny Berigan oder »Stardust« von Tommy Dorsey und seinem Orchester. Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht hatte Milton die Musikbox abgestellt, damit er hören konnte, ob jemand versuchte einzubrechen.
Die überladenen Wände des Restaurants nahmen die Krawalle draußen nicht zur Kenntnis. AI Kaline strahlte noch immer aus seinem Rahmen. Paul Bunyan und der blaue Ochse Babe zogen weiter auf ihrem Treck unter dem Tagesangebot. Die Speisentafel offerierte nach wie vor Eier, Bratkartoffeln, sieben Sorten Kuchen. Bislang war nichts passiert. Eigentlich ein Wunder. Am Tag davor hatte Milton hinterm Fenster gekauert und mit angesehen, wie Plünderer in jedes Geschäft der Straße eingebrochen waren. Sie plünderten den jüdischen Markt und nahmen alles mit bis auf die Mazze und die Yahrzeit- Kerzen. Mit einem feinen Sinn für Stil ließen sie in Joel Moskowitz' Schuhgeschäft die teureren und eleganteren Modelle mitgehen und nur einige orthopädische Angebote und ein paar Florsheims zurück. Bei Haushaltsgeräte-Dyer war, soweit Milton erkennen konnte, bloß noch ein Regal mit Staubsaugerbeuteln übrig. Was würden sie plündern, wenn sie das Diner plünderten? Würden sie das Buntglasfenster mitnehmen, das Milton selbst mitgenommen hatte? Würden sie sich für das Foto von Ty Cobb interessieren, auf dem er zähnefletschend, mit den Stollen voraus, auf die zweite Base rutschte? Vielleicht würden sie die Zebrafelle von den Barhockern reißen. Denen gefiel doch alles Afrikanische, oder? War das nun die neue Mode oder die alte, die wieder
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