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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Abendessen kamen oder Sachen anhatten, die Tessie nicht billigte.
    »In uns gefahren seid ihr!« Morrisons Worte hallten über die Straße, aber Milton hatte keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Denn gerade da walzte wie ein quietschender Godzilla in einem japanischen Film der erste Panzer in sein Blickfeld. Zu beiden Seiten standen Soldaten, nicht mehr Cops, sondern Nationalgardisten, im Tarnanzug, mit Helm, nervös ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett im Anschlag. Diese Gewehre richteten sie auf die anderen Gewehre da oben, die auf sie da unten gerichtet waren. Ein Augenblick relativer Stille trat ein, genug, dass Milton hören konnte, wie gegenüber Morrisons Fliegentür zuschlug. Dann machte es Plopp, wie von einer Spielzeugpistole, und plötzlich erhellte sich die Straße mit tausend Feuern...
    Auch ich, einen halben Kilometer entfernt, hörte sie. Dem langsamen Panzer in diskretem Abstand folgend, war ich von In-dian Village auf der East Side den ganzen Weg bis in den Westen geradelt. Ich versuchte mich, so gut ich konnte, zu orientieren, aber ich war ja erst siebeneinhalb und wusste nicht viele Straßennamen. Auf dem Weg durch die Innenstadt erkannte ich The Spirit of Detroit, die Statue von Marshal Fredericks, die vor dem City-County Building stand. Einige Jahre zuvor hatte ein Witzbold eine Spur aus roten Fußabdrücken in der Schuhgröße der Statue über die Woodward Avenue zu einem Rendezvous mit der Statue einer nackten Frau vor der National Bank von Detroit gemalt. Die Abdrücke waren noch immer schwach zu sehen, als ich vorbeiradelte. Der Panzer bog in die Bush Street ein, ich folgte ihm, vorbei an der Monroe Street und den Lichtern von Greektown. An einem normalen Tag wären die alten griechischen Männer der Generation meines Großvaters jetzt in den Kaffeehäusern eingetrudelt, um den Tag mit Backgammon zu verbringen, doch am Morgen des 25. Juli 1967 war die Straße leer. Irgendwann war mein Panzer auf andere gestoßen; hintereinander fuhren sie nun nach Nordwesten. Bald blieb die Innenstadt zurück, und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Aerodynamisch tief über den Lenker gebeugt, strampelte ich wie eine Irre in den dicken, öligen Auspuffqualm der vorrückenden Kolonne...
    ... während Milton in der Pingree Street sich hinter den zinnenartigen »Athena«-Olivenöldosen niederkauert. Kugeln fliegen aus jedem verdunkelten Fenster an der Straße, aus Frank's Billardsalon und der Crow Bar, vom Glockenturm der Afrikanischen Episkopalkirche, so viele Kugeln, dass sie wie Regen die Luft zum Flimmern bringen, weshalb die eine noch brennende Straßenlampe aussieht, als gäbe sie flackernd den Geist auf. Kugeln hämmern auf Panzerstahl, prallen von Backsteinmauern ab, tätowieren die geparkten Autos. Kugeln reißen einem Kasten des U.S. Postal Service die Beine weg, so dass er wie ein Betrunkener auf die Seite kippt. Kugeln zerstören das Fenster des Tierheims und dringen weiter durch die Wände, zu den Käfigen der Tiere im Hinterraum. Der Schäferhund, der drei Tage und zwei Nächte nonstop gebellt hat, verstummt. Eine Katze wirbelt durch die Luft, stößt einen Schrei aus, die glühenden grünen Augen verlöschen wie Lichter. Nun ist eine wahre Schlacht im Gang, ein Feuergefecht, als wäre ein Stückchen Vietnam in die Heimat gelangt. Aber in diesem Fall liegen die Vietcong auf Beautyrest- Matratzen. Sie sitzen auf Campingstühlen und trinken Malt Whisky, eine Freiwilligenarmee, die sich den Eingezogenen auf der Straße entgegenstellt.
    Unmöglich zu wissen, wer diese Heckenschützen alle waren. Aber leicht zu verstehen, warum die Polizei sie Heckenschützen nannte. Leicht zu verstehen, warum Bürgermeister Jerome Cavanaugh sie Heckenschützen nannte und auch Gouverneur George Romney. Ein Heckenschütze handelt definitionsgemäß allein. Ein Heckenschütze ist feige, hinterhältig; er tötet aus der Ferne, ungesehen. Es war bequem, sie Heckenschützen zu nennen, denn wenn sie keine gewesen wären, was wären sie dann? Der Gouverneur sagte es nicht, die Zeitungen sagten es nicht, die Geschichtsbücher sagen es noch immer nicht, ich aber, die ich die ganze Sache auf meinem Fahrrad beobachtet habe, konnte es deutlich sehen: In Detroit hat, im Juli 1967, nichts weniger als ein Guerillaaufstand stattgefunden.
    Die Zweite Amerikanische Revolution.
    Und nun schlagen die Gardisten zurück. Bei den ersten Krawallen hielt sich die Polizei noch weitgehend im Hintergrund. Sie blieb am Rand, versuchte die

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