Middlesex
nicht kommen! Was ist denn das?... Sie betrachtet ein Blatt, Leute! Callie Stephanides bewundert ein herrliches feuerrotes Herbstblatt, und das in diesem Augenblick! Amigliato kommt näher. Fünf Sekunden! Vier! Das war's dann, Leute, die Meisterschaft der Middle School Junior Varsity-Saison steht vor der Entscheidung - aber da... Stephanides hört Schritte. Jetzt schaut sie auf... und Amigliato zieht ab! Schlagschuss! Ooooh, ist das ein Geschoss! Das spürt man bis hier rauf in die Kabine. Der Ball fliegt direkt auf Stephanides' Kopf zu! Sie lässt das Blatt fallen! Sie schaut hin... schaut hin... Gott, da möchte man gar nicht hinsehen, Leute...«
Stimmt es, dass man kurz vor seinem Tod (durch einen Feldhockeyball oder etwas anderes) sein ganzes Leben vorbeiziehen sieht? Vielleicht nicht das ganze, aber doch Teile davon. Als Becky Amigliatos Schlagschuss an jenem Herbsttag auf mein Gesicht zuraste, flackerten die Ereignisse des vergangenen halben Jahres in meinem möglicherweise bald ausgelöschten Bewusstsein auf.
Als Erstes unser Cadillac - damals der goldene Fleetwood -, wie er im Sommer die lange Auffahrt zur Baker & Inglis-Mäd- chenschule hinaufrollte. Auf dem Rücksitz eine sehr unglückliche Zwölfjährige, ich, die zwangsweise zu einem Vorgespräch geschickt wird. »Ich will nicht an eine Mädchenschule«, beschwere ich mich. »Ich möchte lieber im Bus herumgefahren werden.«
Und dann, im September, holt mich ein anderes Auto zu meinem ersten Schultag in der siebten Klasse ab. Davor war ich immer zur Trombley Elementary zu Fuß gegangen, aber die private Prep School hat eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich gebracht: meine neue Schuluniform etwa, mit Wappen und Schottenkaro. Auch: die Fahrgemeinschaff, ein hellgrüner Kombi, am Steuer eine Frau namens Mrs. Drexel. Sie hat fettige, dünne Haare. Über ihrer Oberlippe ist, ein Vorgeschmack auf die Andeutungen, die ich im folgenden Schuljahr im Englischunterricht zu identifizieren lernen werde, ein Schnurrbart.
Und nun, ein paar Wochen später, fährt der Kombi dahin. Ich schaue aus dem Fenster, Mrs. Drexels Zigarette spult einen Rauchfaden ab. Wir fahren ins Herz von Grosse Pointe. Vorbei an langen Einfahrten hinter Toren, die meine Eltern immer mit Staunen und Ehrfurcht erfüllen. Jetzt fährt Mrs. Drexel diese Einfahrten hoch. (An deren Ende wohnen meine neuen Klassenkameradinnen.) Wir holpern an Ligusterhecken entlang und unter kunstvoll geschnittenen Buschbögen hindurch, bis wir vor abgeschiedenen Seevillen halten, wo Mädchen mit Ranzen in sehr gerader Haltung warten. Sie tragen die gleiche Uniform wie ich, aber an ihnen sieht sie irgendwie anders aus, ordentlicher, stilvoller. Gelegentlich im Bild ist auch eine wohl frisierte Mutter, die gerade eine Gartenrose abschneidet.
Und dann ist es zwei Monate später, gegen Ende des Herbsthalbjahres, und der Kombi erklimmt den Hügel zu meiner für mich nicht mehr ganz so neuen Schule. Der Wagen ist voller Mädchen. Mrs. Drexel zündet sich eine weitere Zigarette an. Sie hält am Straßenrand und wird uns gleich mit einem Fluch belegen. Mit dem Kopf auf die Aussicht deutend - der hügelige, grüne Campus, der See dahinter -, sagt sie: »Genießt das jetzt bloß, Mädchen. Die beste Zeit des Lebens ist die Jugend.« (Mit meinen zwölf Jahren fand ich diesen Ausspruch grässlich. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, was man zu einem Kind sagen kann. Aber vielleicht dachte ich auch wegen gewisser anderer Veränderungen, die in jenem Jahr ihren Anfang nahmen, dass die glückliche Zeit meiner Kindheit an ihr Ende kam.)
Was trat mir noch vor Augen, als der Hockeyball auf mich zu raste? So ungefähr alles, was ein Feldhockeyball symbolisieren kann. Feldhockey, dieses Spiel aus Neuengland, vom alten England übernommen, wie so vieles an unserer Schule. Das Gebäude mit seinen langen, hallenden Fluren und dem Kirchengeruch, den bleigefassten Fenstern, der gruseligen Düsternis. Die Lateinfibeln in der Farbe von Haferschleim. Der Nachmittagstee. Die Knickse unseres Tennisteams. Das Tweedige unseres Lehrkörpers und der Lehrplan selbst, der hellenisch, byronesk mit Homer begann und dann gleich zu Chaucer sprang und von dort weiter zu Shakespeare, Donne, Swift, Wordsworth, Dickens, Tennyson und E. M. Forster. Eins ging ins andere über.
Miss Baker und Miss Inglis hatten die Schule 1911 gegründet, um, in den Worten der Gründungsurkunde, »Mädchen in der klassischen Literatur und in den
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