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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Mittelmeerkost«. Dazu bombardierte er Desdemona mit Fragen über die Küche ihres Heimatlandes. Wie viel Joghurt hatte sie als Kind verzehrt? Wie viel Olivenöl? Knoblauch? Sie beantwortete jede dieser Fragen, weil sie dachte, sein Interesse bedeute, dass endlich etwas Organisches mit ihr sei, und weil sie nie eine Gelegenheit versäumte, durch die Viertel ihrer Kindheit zu schlendern. Der Arzt hieß Müller. Als gebürtiger Deutscher verleugnete er seine Herkunft, wenn es ums Kochen ging. Von Nachkriegsschuld erfüllt, setzte er Bratwurst, Sauerbraten und Königsberger Klopse mit Gift gleich. Sie seien die Hitlers unter den Speisen. Unsere griechische Kost dagegen - unsere in Tomatensoße schwimmende Aubergine, unser Tsatsiki auf Gurkenbasis und unsere Fischeierpasten, unser pilafi und unsere Rosinen und Feigen - betrachtete er als potenzielles Heilmittel, als Leben spendende, Arterien reinigende, Haut straffende Wunderdroge. Und was Dr. Müller sagte, schien auch wahr zu sein: Obwohl erst zweiundvierzig, war sein Gesicht runzlig, mit Hängebacken beladen. Graue Härchen sprossen ihm an den Schläfen, wohingegen mein Vater mit seinen achtundvierzig trotz der Kaffeeflecken unter seinen Augen noch über einen faltenfreien Oliventeint und einen dichten, schimmernden schwarzen Haarschopf verfügte. Nicht umsonst nannten sie es die Griechische Formel. Sie war in unserem Essen! Ein wahrer Jungbrunnen in unseren Dolmades und dem Taramo salata und selbst in unserem Baklava, das nicht die Sünde beging, raffinierten Zucker zu enthalten, sondern nur Honig. Dr. Müller zeigte uns Schaubilder, die er angefertigt hatte, Schaubilder, in denen er die Namen und Geburtsdaten von Italienern, Griechen und einem Bulgaren aufführte, die im Großraum Detroit lebten, und wir sahen auch unseren Eintrag - Desdemona Stephanides, Alter: einundneunzig -, der sich unter all den anderen sehr gut machte. Neben Polen, die Kielbasa erledigt hatte, oder an Pommes frites zugrunde gegangenen Belgiern oder von Puddings um die Ecke gebrachten Angelsachsen oder von Chorizo kaltgemachten Spaniern lief unsere gepunktete Linie immer weiter, wo sich die anderen in einem Gewirr von Abwärtskurven längst verloren hatten. Wer hätte das schon gedacht? Als Volk hatten wir aus den vergangenen paar Jahrtausenden nicht viel, worauf wir stolz sein konnten. Daher war es vielleicht verständlich, dass wir bei Dr. Müllers Hausbesuchen die beunruhigende Anomalie von Leftys multiplen Schlaganfällen eher nicht erwähnten. Wir wollten das Schaubild nicht mit neuen Daten durcheinander bringen und unterschlugen daher, dass Desdemona nicht einundneunzig, sondern einundsiebzig war und dass sie immer die Sieben mit der Neun verwechselte. Wir unterschlugen ihre Tanten Thalia und Victoria, die beide als junge Frauen an Brustkrebs gestorben waren, und wir sagten auch nichts über den hohen Blutdruck, der Miltons Adern hinter seinem glatten, jugendlichen Äußeren strapazierte. Wir konnten es nicht. Wir wollten auf keinen Fall gegen die Italiener oder erst recht nicht gegen jenen einen Bulgaren verlieren. Und Dr. Müller war so vertieft in seine Forschungen, dass er die Prospekte der Bestattungsinstitute neben Desdemonas Bett gar nicht bemerkte, auch nicht das Foto des toten Ehemannes neben dem Foto seines Grabs, die mannigfachen Utensilien einer Witwe, die auf der Erde zurückgelassen worden war. Kein Mitglied einer Schar Unsterblicher vom Olymp. Nur das einzige, das noch lebte.
    Unterdessen wuchsen die Spannungen zwischen meiner Mutter und mir.
    »Lach nicht!«
    »Tut mir Leid, Schätzchen. Aber, na ja, du hast doch gar nichts zum... zum...«
    »Mom!«
    »... zum Hochhalten.«
    Ein Schrei kurz vor dem Koller. Zwölfjährige Füße rannten die Treppe hinauf, während Tessie mir nachrief: »Sei nicht so theatralisch, Callie. Wenn du unbedingt einen BH willst, dann kriegst du eben einen.« Oben in meinem Zimmer zog ich, nachdem ich abgeschlossen hatte, vor dem Spiegel die Bluse hoch, um zu sehen... dass meine Mutter Recht hatte! Nichts! Überhaupt nichts, was hochgehalten werden konnte. Und ich brach in Tränen der Wut und Enttäuschung aus.
    Als ich abends zum Essen herunterkam, schlug ich in der einzigen mir möglichen Weise zurück.
    »Was ist los? Hast du keinen Hunger?«
    »Ich will normales Essen.«
    »Was meinst du mit normalem Essen?«
    »Amerikanisches Essen.«
    »Ich muss das machen, was jiajia mag.«
    »Vielleicht auch mal, was ich mag?«
    »Du magst Spanikopita. Das

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