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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Gleichung an die Tafel. An den Holzpulten hinter ihr folgen die Schüler ihren Berechnungen oder dösen oder treten andere von hinten. Ein grauer Wintertag in Michigan. Das Gras draußen ist wie aus Zinn. Die Neonröhren über uns mühen sich, die säsonale Trübnis zu vertreiben. Ein Bild von dem großen Mathematiker Ramanujan (den wir Mädchen zunächst für Miss Grotowskis ausländischen Freund hielten) hängt an der Wand. Die Luft ist stickig, wie es nur die Luft in einer Schule sein kann.
    Und hinter dem Rücken unserer Lehrerin, an unseren Pulten, fliegen wir durch die Zeit. Dreißig Kinder in sechs ordentlichen Reihen werden mit einer Geschwindigkeit dahingetragen, die wir nicht begreifen können. Während Miss Grotowski Gleichungen an die Tafel kritzelt, verändern sich meine Klassenkameraden um mich herum. Beispielsweise scheinen Jane Blunts Schenkel von Woche zu Woche ein wenig länglicher zu werden. Ihr Pullover schwillt vorn an. Dann hebt eines Tages Beverly Maas, die neben mir sitzt, die Hand, und ich sehe Dunkles in ihrem Ärmel: ein Beet hellbrauner Haare. Seit wann ist es da? Seit gestern? Vorgestern? Die Gleichungen werden im Lauf des Jahres immer länger, komplizierter, und vielleicht liegt es ja an den vielen Zahlen oder den Multiplikationstabellen; wir lernen, große Summen zu quantifizieren, während die Körper durch eine neue Mathematik zu unerwarteten Antworten gelangen. Peter Quails Stimme ist zwei Oktaven tiefer als im Monat davor, und er merkt es nicht. Warum nicht? Er fliegt zu schnell. Jungen wächst Pfirsichflaum auf der Oberlippe. Stirnen und Nasen schlagen aus. Das Spektakulärste: Aus Mädchen werden Frauen. Nicht geistig oder gar emotional, sondern körperlich. Die Natur trifft ihre Vorbereitungen. In die Spezies einkodierte Fristen werden eingehalten.
    Nur Calliope da in der zweiten Reihe kommt nicht vom Fleck, ihr Pult steht irgendwie still, so dass sie die Einzige ist, die das wahre Ausmaß der Metamorphosen um sich herum wahrnimmt. Während sie Beweise führt, denkt sie an Tricia Lambs Handtasche auf dem Fußboden neben ihrem Pult, an den Tampon, den sie am Morgen kurz darin gesehen hat - wie man den wohl benutzt? - und wen könnte sie fragen? Nach wie vor hübsch, merkt Calliope bald, dass sie das kleinste Mädchen in der Klasse ist. Sie lässt ihren Radiergummi fallen. Kein Junge hebt ihn ihr auf. Im Weihnachtsspiel darf sie nicht wie in den letzten Jahren Maria spielen, sondern eine Elfe... Aber es besteht noch Hoffnung, oder?... denn die Pulte fliegen, Tag um Tag; im Formationsflug kurven und donnern die Schüler durch die Zeit, sodass Callie eines Nachmittags von ihrem tintenbeklecksten Papier aufschaut und feststellt, dass es Frühling ist, Blumen sprießen, die Forsythien in Blüte stehen, Ulmen grünen; in der Pause halten Mädchen und Jungen Händchen, küssen sich manchmal hinter Bäumen, und Calliope fühlt sich angeschmiert, betrogen. »Denkst du noch an mich?«, sagt sie zur Natur. »Ich warte. Ich bin auch noch da.«
    So wie Desdemona. Im April 1972 steckte ihr Antrag, zu ihrem Mann in den Himmel zu kommen, noch immer in den Mühlen einer riesigen himmlischen Bürokratie. Als Desdemona sich ins Bett gelegt hatte, war sie vollkommen gesund. Dann aber trugen ihr die Wochen, Monate und schließlich Jahre der Untätigkeit, gepaart mit ihrer beachtlichen Willenskraft, sich aus dem Weg zu schaffen, die Belohnung eines ganzen Medizinischen Handbuchs der Leiden ein. Während ihrer bettlägerigen Jahre hatte Desdemona Wasser in den Lungen, Hexenschuss, eine Schleimbeutelentzündung, einen Anfall von Eklampsie, die ein halbes Jahrhundert später, als es ätiologisch normal gewesen wäre, zum Ausbruch kam und dann zu Desdemonas Bedauern auf ebenso rätselhafte Weise wieder verschwand, eine schwere Gürtelrose, die ihr auf Rippen und Rücken die Farbe und Textur reifer Erdbeeren bescherte und wie ein Viehstock stach, neunzehn Erkältungen, eine Woche lang eine im Wortsinn »wandernde« Lungenentzündung, Geschwüre, psychosomatisch bedingten grauen Star, der an den Todestagen ihres Mannes ihren Blick umwölkte und den sie im Grunde nur hinwegweinte, und eine Dupuytren-Kon- traktur, bei der entzündete Sehnen in ihrer Hand Daumen und drei Finger schmerzhaft in den Handteller krümmten, der Mittelfinger allerdings zu einer obszönen Geste hochgereckt blieb.
    Ein Arzt unterzog Desdemona einer Langzeitstudie. Er schrieb an einem Artikel für eine Medizinzeitschrift über »Die

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