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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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hatten, war es uns bis dahin noch nie gelungen, Milton auch nur annähernd zu schlagen. Weder meine neuerdings große Reichweite noch Pleitegeiers finstere Konzentration hatten Miltons gemeinem Schnitt oder seinem »Killerschlag«, der, durch die Kleidung, rote Male auf unserer Brust zurückließ, etwas entgegensetzen können. In jenem Sommer aber war etwas anders. Machte Milton seinen superschnellen Aufschlag, retournierte Pleitegeier mit minimaler Anstrengung. Brachte Milton den »Englischen«, den er bei der Navy gelernt hatte, schnitt auch Pleitegeier. Selbst wenn Milton seinen tödlichen Schmetterball über den Tisch jagte, schlug Pleitegeier ihn, dank sagenhafter Reflexe, dahin zurück, woher er gekommen war. Milton geriet ins Schwitzen. Er wurde rot im Gesicht. Pleitegeier blieb gelassen. Er hatte einen eigenartigen, zerstreuten Blick. Seine Pupillen waren erweitert. »Los!«, feuerte ich ihn an. »Schlag Dad!«
    12:12.12:14.14:15.17:18.18:21! Pleitegeier hatte es geschafft! Er hatte Milton geschlagen!
    »Ich bin auf Acid«, erklärte er mir später.
    »Was?«
    »Windowpane. Drei Stück.«
    Die Droge hatte alles wie in Zeitlupe erscheinen lassen. Miltons schnellste Aufschläge, seine teuflischsten Schnitt- und Schmetterbälle waren scheinbar durch die Luft geschwebt.
    LSD? Gleich drei? Pleitegeier war die ganze Zeit auf Trip gewesen! Beim Essen! »Das war die Härte«, sagte er. »Ich hab zugesehen, wie Dad das Huhn tranchiert hat, und dann hat es mit den Flügeln geflattert und ist weggeflogen!«
    »Was ist bloß mit dem Jungen los?«, hörte ich durch die Wand zwischen unseren Zimmern meinen Vater meine Mutter fragen. »Jetzt redet er davon, mit Maschinenbau aufzuhören. Ist ihm zu langweilig.«
    »Das ist bloß eine Phase. Das geht vorbei.«
    »Na, hoffentlich.«
    Kurz danach war Pleitegeier ans College zurückgekehrt. Zu Thanksgiving war er nicht gekommen. Und als es nun auf Weihnachten '73 zuging, fragten wir uns alle, wie er beim Wiedersehen wohl sein würde.
    Das fanden wir schnell heraus. Genau wie von meinem Vater befürchtet, hatte Pleitegeier seine Pläne, Ingenieur zu werden, aufgegeben. Jetzt studierte er, erfuhren wir, im Hauptfach Anthropologie.
    Einer seiner Kurse beinhaltete als Aufgabe eine Tätigkeit, die Pleitegeier »Feldstudie« nannte und über einen Großteil seiner Ferien durchführte. Er trug einen Kassettenrecorder mit sich herum und nahm alles auf, was wir sagten. Er machte sich Notizen zu unseren »Ideationssystemen« und »Ritualen der Verwandtschaftsbindungen«. Selbst sagte er fast nichts, was er damit begründete, die Ergebnisse nicht beeinflussen zu wollen. Allerdings stieß Pleitegeier bei seinen Beobachtungen, wie unsere Großfamilie aß, scherzte und stritt, hier und da ein Lachen aus, ein privates Heureka, das ihn in seinen Sessel zurückwarf und seine Earth-Schuhe vom Fußboden hob. Dann beugte er sich wieder vor und schrieb wie wild in sein Notizbuch.
    Wie schon erwähnt, hatte mein Bruder mich, als wir heranwuchsen, nicht weiter beachtet. An jenem Wochenende aber, angespornt von seiner neuen Beobachtungsmanie, zeigte sich Pleitegeier wieder interessiert. Am Freitagnachmittag, ich saß gerade am Küchentisch und machte gewissenhaft irgendwelche Hausaufgaben im Voraus, setzte er sich zu mir. Lange starrte er mich gedankenverloren an.
    »Latein, hm? Bringen sie euch das in der Schule bei?«
    »Mir gefällt's.«
    »Bist du nekrophil?«
    »Was?«
    »Das ist man, wenn man auf Tote steht. Latein ist doch tot, oder?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Ich kann auch ein bisschen Latein.«
    »Ach, wirklich?«
    »Cunnilingus.«
    »Sei nicht so ekelhaft.«
    »Fellatio.«
    »Ha ha.«
    »Mons veneris.«
    »Ich sterbe vor Lachen. Du machst mich fertig. Da, ich bin tot.«
    Pleitegeier schwieg eine Weile. Ich versuchte weiterzulernen, spürte aber seinen Blick auf mir. Schließlich klappte ich das Buch wütend zu. »Was glotzt du so?«, sagte ich.
    Es entstand die für meinen Bruder typische Pause. Die Augen hinter seiner Nickelbrille wirkten gleichgültig, aber im Gehirn dahinter arbeitete es.
    »Ich glotze meine kleine Schwester an«, sagte er.
    »Gut. Du hast sie gesehen. Geh jetzt.«
    »Ich glotze meine kleine Schwester an und denke, sie sieht nicht mehr aus wie meine kleine Schwester.«
    »Was soll denn das jetzt?«
    Wieder die Pause. »Ich weiß es nicht«, sagte mein Bruder.
    »Ich versuche es rauszukriegen.«
    »Na schön, wenn du's rausgekriegt hast, lass es mich wissen. Aber jetzt hab

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