Middlesex
ihr. Ich habe einmal gesagt, die meisten meiner Emotionen seien Hybriden. Aber nicht alle. Manche sind rein und unverfälscht. Eifersucht zum Beispiel.
»Rex ist ganz okay«, sagte ich, als ich zu ihr aufgeschlossen hatte. »Wenn man Totschläger mag.«
»Das war ein Unfall«, sagte das Objekt.
Der Mond war zu drei Vierteln voll. Er versilberte die fleischigen Blätter der Bäume. Das Gras war feucht. Wir schüttelten beide unsere Clogs ab und stellten uns hinein. Nach einem Augenblick legte mir das Objekt seufzend den Kopf an die Schulter.
»Es ist gut, dass du bald abreist«, sagte sie.
»Warum?«
»Weil das alles zu merkwürdig ist.« Ich schaute mich um, ob jemand uns sehen konnte. Niemand. Also legte ich den Arm um sie.
Die nächsten Minuten standen wir unter den mondgebleichten Bäumen und hörten die aus dem Haus dröhnende Musik. Bald würden die Bullen kommen. Die Bullen kamen immer. Darauf konnte man sich in Grosse Pointe verlassen.
Am nächsten Vormittag ging ich mit Tessie in die Kirche. Wie immer saß Tante Zo beispielgebend vor uns. Aristotle, Socrates und Plato trugen ihre Gangsteranzüge. Cleo war in ihrer schwarzen Mähne versunken und dämmerte vor sich hin.
Die hinteren und seitlichen Bereiche der Kirche lagen im Dunkel. Ikonen glommen in den Säulengängen oder hoben steife Finger in den schimmernden Kapellen. Unter der Kuppel bündelte sich das Licht zu einem kalkigen Strahl. Die Luft war vom Weihrauch zum Schneiden dick. Wie sie so hin und her schritten, erinnerten die Priester an Männer in einem Hammam.
Dann war es so weit, das Spektakel begann. Ein Priester drückte einen Schalter. Die untere Ebene des gewaltigen Kronleuchters flammte auf. Hinter der Ikonostase trat Father Mike hervor. Er trug ein leuchtend türkisfarbenes Gewand, auf dessen Rücken ein rotes Herz aufgestickt war. Er überquerte die Solea und trat zu den Gemeindemitgliedern hinab. Der Rauch aus seinem Weihrauchfass stieg in Schwaden auf, duftend nach Antike. »Kyrie elei son«, sang Father Mike. »Kyrie eleison.« Und obwohl die Worte mir nichts oder fast nichts sagten, spürte ich ihr Gewicht, die tiefe Furche, die sie in die Luft der Zeit schnitten. Tessie bekreuzigte sich, in Gedanken bei Pleitegeier.
Erst schritt Father Mike die linke Seite der Kirche ab. In blauen Wellen wogte Weihrauch über die versammelten Köpfe. Er trübte den Lichtkreis des Kronleuchters. Er verschlimmerte das Lungenleiden der Witwen. Er mattierte die grellen Anzüge meiner Cousins. Als er mich in seine Trockeneisdecke hüllte, atmete ich ihn ein und sprach selbst ein Gebet. Bitte Gott lass Dr. Bauer nichts an mir finden. Und lass mich einfach so mit dem Objekt befreundet sein. Und mach dass sie mich nicht vergisst solange wir in der Türkei sind. Und hilf meiner Mutter damit sie sich nicht so um meinen Bruder sorgt. Und mach dass Pleitegeier wieder aufs College geht.
Weihrauch erfüllt in der orthodoxen Kirche eine Vielzahl von Zwecken. Symbolisch ist er eine Opfergabe an Gott. Wie bei den Brandopfern in heidnischen Zeiten weht der Duft in den Himmel. Vor der Ära der modernen Einbalsamierung hatte Weihrauch auch einen praktischen Nutzen. Er überdeckte den Leichengeruch bei Bestattungen. In großer Menge eingeatmet, kann er auch eine Benommenheit erzeugen, die sich wie eine religiöse Träumerei ausnimmt. Und wenn man genügend davon einatmet, kann einem auch schlecht werden.
»Was ist mit dir?« Tessies Stimme in meinem Ohr. »Du bist so blass.«
Ich hörte auf zu beten und öffnete die Augen.
»Wirklich?«
»Geht's dir gut?«
Ich wollte bejahend antworten. Aber dann hielt ich mich zurück.
»Du bist richtig blass«, sagte Tessie erneut. Sie legte mir die Hand auf die Stirn.
Übelkeit, Träumerei, Hingabe, Täuschung - das alles kam zusammen. Wenn Gott einem nicht hilft, muss man sich selber helfen.
»Mein Magen«, sagte ich.
»Was hast du gegessen?«
»Eigentlich nicht mein Magen. Weiter unten.«
»Ist dir flau?«
Father Mike kam wieder vorbei. Er schwang das Rauchfass so hoch, dass es beinahe meine Nasenspitze streifte. Und ich blähte die Nasenlöcher und sog so viel Rauch wie möglich ein, damit ich noch blasser wurde, als ich es bereits war.
»Es ist, als würde jemand was in mir verdrehen«, sagte ich zaghaft.
Was wohl als Antwort mehr oder weniger gut gewählt war. Denn nun lächelte Tessie. »Ach, mein Liebling«, sagte sie.
»Ach, Gott sei gedankt.«
»Du bist froh, dass mir schlecht ist? Na, vielen
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