Middlesex
Schlussbeurteilung schwer.
Dann war da noch das Diagnosewerkzeug Pornographie. Als ich eines Nachmittags zu meiner Stunde mit Dr. Luce kam, stand ein Filmprojektor in seinem Sprechzimmer. Vor dem Regal war eine Leinwand aufgestellt, und die Jalousien waren heruntergelassen. In dem klebrigen Licht führte Luce das Zelluloid über die Transporttrommel.
»Zeigen Sie mir jetzt wieder den Film von meinem Dad? Aus der Zeit, als ich noch klein war?«
»Heute habe ich etwas ein wenig anderes für dich«, sagte Luce.
Ich nahm meine gewohnte Haltung auf der Liege ein, die Arme hinter mir auf dem Rindsleder verschränkt. Dr. Luce schaltete das Licht aus, und schon begann der Film.
Er handelte von einem Pizzaservice-Mädchen. Der Titel lautete Annie bringt's an die Tür. In der ersten Szene steigt Annie, in abgeschnittenen Jeans und nabelfreier Ellie-May- Bluse, vor einem Haus am Meer aus ihrem Auto. Sie läutet. Niemand ist zu Hause. Da sie nicht will, dass die Pizza verdirbt, setzt sie sich an den Pool und isst sie.
Der Produktionswert war gering. Der Pooljunge war, als er ins Bild kam, schlecht ausgeleuchtet. Was er sagte, war kaum zu verstehen. Aber schon bald sagte er gar nichts mehr. Annie hatte angefangen, sich auszuziehen. Sie war auf den Knien. Auch der Pooljunge war nackt, und dann wälzten sie sich auf den Stufen, im Pool, auf dem Sprungbrett. Ich schloss die Augen. Die Farben des Films erinnerten an rohes Fleisch, und das gefiel mir nicht. Er war überhaupt nicht so schön wie die winzigen Gemälde in Luces Sprechzimmer.
Mit freimütiger Stimme fragte Luce aus dem Dunkel: »Wer macht dich an?«
»Wie bitte?«
»Wer von beiden macht dich an? Die Frau oder der Mann?« Die wahre Antwort war, keiner. Aber die Wahrheit ging nicht. Gemäß meiner Täuschungsgeschichte brachte ich sehr leise »Der Junge« heraus.
»Der Pooljunge? Das ist gut. Ich stehe eher auf das Pizzamädchen. Sie hat einen tollen Körper.« Einst ein behütetes Kind aus einem Presbyterianer-Zuhause, war Luce nun von jeder Prüderie befreit. »Gefallen dir ihre Titten? Machen sie dich nicht an?«
»Nein.«
»Und der Schwanz des Jungen, macht der dich an?«
Ich nickte, kaum merklich, und wünschte, dass es vorbei war. Aber es dauerte noch eine ganze Weile. Annie musste noch weitere Pizzas ausliefern. Luce wollte keine einzige verpassen.
Manchmal brachte er andere Ärzte mit. Eine typische Präsentation verlief folgendermaßen. Ich wurde aus meinem Schreibraum am anderen Ende der Klinik gerufen. In Dr. Luces Sprechzimmer warteten zwei Männer in Straßenanzügen. Sie standen auf, als ich hereinkam. Luce stellte uns vor. »Callie, das sind Dr. Craig und Dr. Winters.«
Die Ärzte schüttelten mir die Hand. Das war ihre erste Erkenntnis: mein Händedruck. Dr. Craig drückte fest zu, Winters weniger. Sie achteten darauf, nicht zu eifrig zu wirken. Wie Männer, die einem Model begegneten, wandten sie ihre Blicke von meinem Körper ab und gaben vor, an mir als Person interessiert zu sein. Luce sagte: »Callie ist erst seit rund einer Woche in der Klinik.«
»Wie gefällt dir New York?«, fragte Dr. Craig.
»Ich hab noch kaum was von der Stadt gesehen.«
Die Ärzte machten mir Besichtigungsvorschläge. Die Atmosphäre war ungezwungen, freundlich. Luce legte mir die Hand aufs Kreuz. Männer haben diese ärgerliche Angewohnheit. Sie greifen einem an den Rücken, als wäre dort ein Griff, und führen einen genau dahin, wohin sie einen haben wollen. Oder sie legen einem väterlich die Hand auf den Kopf. Männer und ihre Hände. Man darf sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Luces Hand verkündete nun: Da ist sie. Meine Attraktion, mein Star. Das Schreckliche war, dass ich mich darauf einließ; ich hatte Luces Hand gern auf dem Rücken. Ich mochte die Aufmerksamkeit. Die vielen Leute, und alle wollten mich kennen lernen.
Schon bald geleitete mich Luces Hand den Gang entlang ins Untersuchungszimmer. Ich kannte den Ablauf bereits. Hinter dem Schirm zog ich mich aus, während die Ärzte warteten. Der grüne Papierkittel lag zusammengefaltet auf dem Stuhl.
»Die Familie kommt woher, Peter?«
»Aus der Türkei. Ursprünglich.«
»Mir ist nur die Papua-Neuguinea-Studie bekannt« , sagte Craig.
»Die mit den Sambia, stimmt's?«, fragte Winters.
»Ja, richtig«, antwortete Luce. »Auch dort sind Mutationen sehr verbreitet. Und auch vom sexologischen Standpunkt aus sind die Sambia interessant. Sie praktizieren ritualisierte Homosexualität. Die
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