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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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aber anders wirkend, mit einem 5-alpha- Reduktase-Mangelsyndrom. Das aber bedeutete Luces Denkart zufolge nicht, dass ich eine männliche Geschlechtsidentität hatte.
    Dass ich ein Teenager war, machte die Sache noch kniffliger. Zusätzlich zu chromosomalen und hormonalen Faktoren musste Luce mein Geschlecht nach Aufzucht und Erziehung berücksichtigen, und das war weiblich gewesen. Er mutmaßte, dass die Gewebemasse, die er in mir palpiert hatte, testikulär war. Dennoch konnte er erst sicher sein, wenn er sich eine Probe unterm Mikroskop angesehen hatte.
    Das alles musste Luce durch den Kopf gegangen sein, als er mich ins Wartezimmer zurückbrachte. Er sagte mir, er wolle nun mit meinen Eltern sprechen und werde sie hinausschicken, sobald er fertig sei. Er war aus seiner Versunkenheit wieder aufgetaucht und freundlich wie zuvor, lächelte und tätschelte mir den Rücken.
    In seinem Sprechzimmer setzte Luce sich auf seinen Eames- Stuhl, blickte auf Milton und Tessie und rückte die Brille zurecht.
    »Mr. Stephanides, Mrs. Stephanides, ich will offen zu Ihnen sein. Wir haben hier einen komplizierten Fall. Mit kompliziert meine ich nicht unheilbar. Für derartige Fälle stehen uns eine Reihe effektiver Behandlungen zur Verfügung. Aber bevor ich so weit bin, mit der Behandlung zu beginnen, muss ich noch einiges klären.«
    Meine Mutter und mein Vater saßen währenddessen nur einen halben Meter auseinander, aber jeder hörte etwas anderes. Milton hörte die Wörter, die gefallen waren. Er hörte »Behandlung« und »effektiv«. Tessie dagegen hörte die Wörter, die nicht gefallen waren. Beispielsweise hatte der Arzt nicht meinen Namen gesagt. Er hatte nicht »Calliope« gesagt, auch nicht »Callie«. Auch »Tochter« hatte er nicht gesagt. Er benutzte überhaupt keine Pronomen.
    »Ich muss weitere Tests durchführen«, fuhr Luce fort. »Ich muss eine umfassende psychologische Beurteilung erstellen. Wenn ich die notwendigen Informationen habe, können wir den Behandlungsverlauf in allen Einzelheiten besprechen.«
    Milton nickte schon. »Über welchen Zeitraum reden wir, Herr Doktor?«
    Luce wölbte nachdenklich die Unterlippe vor. »Ich möchte die Labortests noch einmal machen, nur zur Sicherheit. Die Ergebnisse werden wir morgen haben. Die psychologische Beurteilung wird länger dauern. Ich muss Ihr Kind wenigstens eine Woche, vielleicht zwei, täglich sehen. Auch wäre es hilfreich, wenn Sie mir alle Kindheitsfotos oder Amateurfilme, die Sie haben, geben könnten.«
    Milton fragte Tessie: »Wann fängt Callies Schule an?«
    Tessie hörte ihn nicht. Luces Worte »Ihr Kind« hatten sie abgelenkt.
    »Welche Art von Informationen brauchen Sie, Herr Doktor?«, fragte Tessie.
    »Die Bluttests werden uns Aufschluss über den Hormonspiegel geben. Die psychologische Beurteilung ist in solchen Fällen Routine.«
    »Glauben Sie, es ist was mit den Hormonen?«, fragte Milton.
    »Eine hormonale Unausgewogenheit?«
    »Das werden wir wissen, wenn ich die Zeit gehabt habe, das Notwendige zu tun«, sagte Luce.
    Milton stand auf und gab dem Arzt die Hand. Die Sprechstunde war zu Ende.
    Sie erinnern sich: Weder Milton noch Tessie hatten mich in den letzten Jahren unbekleidet gesehen. Woher sollten sie es also wissen? Und da sie es nicht wussten, wie sollten sie es sich vorstellen? Die Informationen, die sie gesammelt hatten, beruhten allesamt auf Sekundärmerkmalen - meiner heiseren Stimme, meiner flachen Brust -, aber das war alles andere als überzeugend. Ein Hormonproblem. Ernster konnte es nicht sein. Das glaubte mein Vater oder wollte es glauben, und so versuchte er darauf hinzuwirken, dass auch Tessie es glaubte.
    Ich hatte meine eigenen Vorbehalte. »Warum braucht er eine psychologische Beurteilung?«, fragte ich. »Ich bin doch nicht verrückt.«
    »Der Arzt hat gesagt, es ist Routine.«
    »Aber warum?«
    Mit dieser Frage hatte ich den Kern der Sache getroffen. Meine Mutter hat mir später immer wieder gesagt, dass sie den wahren Grund für die psychologische Beurteilung erahnt, aber sich entschieden habe, es dabei bewenden zu lassen. Oder eben nichts entschieden habe. Sollte doch Milton entscheiden. Milton zog es vor, das Problem pragmatisch anzugehen. Es war sinnlos, sich über eine psychologische Beurteilung den Kopf zu zerbrechen, die ohnehin nur das Offensichtliche würde bestätigen können: dass ich ein normales, gut angepasstes Mädchen war. »Wahrscheinlich schickt er der Versicherung für diesen psychologischen Kram

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