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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Straßengeräusche drangen bis ins Zimmer, eigenartig deutlich, prallten vom Steingebäude gegenüber ab. Ich horchte auf die Polizeisirenen, die wütenden Hupen. Mein Kissen war dünn. Es roch wie ein Raucher. Jenseits des Teppichstreifens schlief meine Mutter schon. Vor meiner Empfängnis hatte sie in den absonderlichen Plan meines Vaters eingewilligt, Einfluss auf mein Geschlecht zu nehmen. Sie hatte es getan, um nicht allein zu sein, um eine Freundin im Haus zu haben. Und diese Freundin war ich gewesen. Ich hatte meiner Mutter immer nahe gestanden. Wir hatten das gleiche Wesen. Nichts taten wir lieber, als auf einer Parkbank zu sitzen und Gesichter vorbeiziehen zu sehen. Das Gesicht, das ich nun betrachtete, gehörte Tessie in dem anderen Bett. Es war weiß, leer, so als habe ihre Nachtcreme nicht nur ihr Make-up, sondern auch ihre Persönlichkeit entfernt. Dennoch bewegten sich Tessies Augen; unter den Lidern sausten sie hin und her. Callie konnte sich damals nicht vorstellen, was Tessie in ihren Träumen sah. Aber ich kann es. Tessie hatte einen Familientraum. Eine Version der Albträume, die Desdemona im Anschluss an Fards Predigten gequält hatten. Träume von menschlichen Keimen, die Blasen bilden, sich teilen. Von scheußlichen Kreaturen, die aus fahlem Schaum heranwachsen. Am Tag gestattete Tessie sich solche Gedanken nicht, also kamen sie nachts zu ihr. War es ihre Schuld? Hätte sie sich Milton widersetzen sollen, als er versuchte, der Natur seinen Willen aufzuzwin-gen? Gab es doch einen Gott, und bestrafte Er die Menschen auf Erden? Diese abergläubischen Vorstellungen der Alten Welt waren aus dem Bewusstsein meiner Mutter verbannt, aber in ihren Träumen wirkten sie noch nach. Vom anderen Bett aus beobachtete ich das Spiel dieser dunklen Mächte auf dem schlafenden Gesicht meiner Mutter.

ICH SCHLAGE MICH IM WEBSTER'S NACH
    Nacht für Nacht warf ich mich herum und konnte nicht durchschlafen. Ich war wie die Prinzessin auf der Erbse. Immerzu störte mich ein Unruhekügelchen. Manchmal wachte ich auf mit dem Gefühl, ein Scheinwerfer sei im Schlaf auf mich gerichtet gewesen. Es war, als habe mein ätherischer Körper mit Engeln gesprochen, irgendwo unter der Zimmerdecke. Wenn ich dann die Augen aufschlug, verschwanden sie. Dennoch hörte ich die Reste des Gesprächs, den verklingenden Nachhall des Kristallglöckchens. Aus den Tiefen meines Seins stieg eine wesentliche Information auf. Diese Information lag mir auf der Zunge und kam doch nie heraus. Eines war sicher: Irgendwie hatte das alles mit dem Objekt zu tun. Ich lag wach und dachte an sie, überlegte, wie es ihr wohl ging, verzehrte mich nach ihr, trauerte.
    Auch an Detroit dachte ich, an die verödeten Grundstücke, auf denen blasses Osirisgras wucherte, Grundstücke, die zwischen den zum Abriss freigegebenen und den noch nicht zum Abriss freigegebenen Häusern lagen, und ich dachte an den Fluss mit seinem eisenhaltigen Abwasser und den toten Karpfen, die mit abblätterndem weißem Bauch an der Oberfläche trieben. Ich dachte an die Fischer, die mit ihren Ködereimern und Bierdosen auf den Frachterkais standen und im Radio das Baseballspiel verfolgten. Immer wieder heißt es, dass ein frühes traumatisches Erlebnis einen Menschen auf immer zeichnet, ihn aus der Reihe holt und sagt: »Bleib da stehen. Und nicht bewegen.« Für mich war das meine Zeit in der Klinik. Ich spüre, wie eine direkte Linie von dem Mädchen, dessen Knie sich unter der Hoteldecke abzeichneten, zu dem Menschen reicht, der gerade auf seinem Aeron-Drehstuhl sitzt und schreibt. Ihre Aufgabe war es, in der realen Welt ein mythisches Leben zu leben, meine ist es, darüber zu schreiben. Mit vierzehn hatte ich nicht die Mittel, wusste nicht genug, war noch nicht auf dem anatolischen Berg gewesen, den die Griechen Olymp und die Türken Uludag nennen, so wie die Limonade. Ich hatte noch nicht das Alter, um zu erkennen, dass das Leben den Menschen nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit schickt, in die Kindheit und schließlich in die Zeit vor der Geburt, damit er sich mit den Toten austauschen kann. Man wird älter, man schnauft auf der Treppe, man tritt in den Körper des Vaters ein. Von dort ist es nur ein kurzer Sprung zu den Großeltern, und ehe man's sich versieht, reist man durch die Zeit. Im Leben bewegen wir uns rückwärts. In italienischen Bussen sind es immer die grauhaarigen Touristen, die einem etwas über die Etrusker erzählen können.
    Am Ende dauerte es

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