Middlesex
nickte einmal. »Und hat es dir gefallen?«
Hier konnte ich die Wahrheit sagen. »Es hat wehgetan«, sagte ich. »Außerdem hatte ich Angst, schwanger zu werden.«
Luce lächelte still und schrieb eine Kleinigkeit in sein Notizbuch. »Da sei mal ganz unbesorgt«, sagte er.
So lief es. Jeden Tag saß ich eine Stunde lang in Luces Sprechzimmer und redete über mein Leben, meine Gefühle, meine Vorlieben und Abneigungen. Luce stellte alle möglichen Fragen. Die Antworten, die ich ihm gab, waren manchmal weniger wichtig als die Art, wie ich ihm antwortete. Er beobachtete meinen Gesichtsausdruck; er machte sich Stichpunkte zu meinem Argumentationsstil. Frauen neigen mehr als Männer dazu, ihren Gesprächspartner anzulächeln. Frauen machen eine Pause und suchen, bevor sie fortfahren, nach Zeichen der Zustimmung. Männer schauen lediglich geradeaus und reden weiter. Frauen bevorzugen das Anekdotische, Männer das Deduktive. Es war unmöglich, einer Arbeit wie der von Luce nachzugehen und nicht auf diese Stereotypen zurückzugreifen. Er kannte ihre Grenzen. Aber sie waren klinisch nützlich.
Wenn ich nicht über mein Leben und meine Gefühle befragt wurde, schrieb ich darüber. An den meisten Tagen saß ich an einer Schreibmaschine und tippte das, was Luce meine »Psychographie« nannte. Diese frühen Memoiren begannen nicht mit »Ich wurde zweimal geboren«. Für knackige, rhetorische Anfänge musste ich erst noch den richtigen Dreh finden. Sie begannen einfach mit den Worten »Mein Name ist Calliope Stephanides. Ich bin vierzehn Jahre alt und werde bald fünfzehn.« Ich begann mit den Fakten, und soweit ich konnte, hielt ich mich an sie.
Singe, Muse, wie die listige Calliope auf der klapprigen Smith Corona schrieb! Singe, wie die Schreibmaschine unter ihren psychiatrischen Enthüllungen surrte und bebte! Singe von ihren zwei Farbbändern, dem einen zum Tippen und dem anderen zum Korrigieren, die so beredt ihr Dilemma vor Augen führten, schwebend zwischen den Druckbuchstaben Genetik und dem Tipp-Ex Chirurgie. Singe von dem eigenartigen Geruch, den die Schreibmaschine verströmte, wie WD-40 und Salami, und von dem Day-Glo-Blumenbildchen, mit dem sie der Letzte, der an ihr gesessen hatte, beklebt hatte, und von der kaputten F- Taste, die klemmte. Auf dieser neumodischen, bald aber überholten Maschine schrieb ich weniger wie ein Mädchen aus dem Mittelwesten als wie eine Pfarrerstochter aus Shropshire. Irgendwo habe ich noch immer eine Abschrift meiner Psychographie. Luce hatte sie in seinen gesammelten Werken veröffentlicht, ohne Nennung meines Namens. »Ich würde gern von meinem Leben erzählen«, heißt es an einer Stelle, »und von den Erfahrungen, welche auf diesem Planeten, den wir Erde nennen, meine Freuden und Leiden zahllos machen.« Dort, wo ich meine Mutter beschreibe, heißt es: »Ihre Schönheit ist von der Art, die durch Kummer Kontur gewinnt.« Ein paar Seiten weiter fällt der Zwischentitel »Callies galliges giftiges Geläster«. Mal schrieb ich wie eine schlechte George Eliot, mal wie ein schlechter Salinger. »Wenn ich eines hasse, dann Fernsehen.« Unwahr: Ich liebte Fernsehen! Aber an dieser Smith Corona entdeckte ich rasch, dass Die-Wahrheit-Sagen lange nicht so viel Spaß machte wie Sachen erfinden. Ebenfalls wusste ich, dass ich für ein Publikum schrieb - Dr. Luce - und dass er mich, wenn ich einen einigermaßen normalen Eindruck hinterließ, nach Hause schicken würde. Das erklärt die Passagen über meine »Zuneigung zu Katzen«, die Kuchenrezepte und meine tiefe Liebe zur Natur.
Luce verschlang alles. Wirklich; Ehre, wem Ehre gebührt. Luce war der Erste, der mich zum Schreiben ermunterte. Jeden Abend las er, was ich am Tag getippt hatte. Natürlich wusste er nicht, dass ich mir das meiste dessen, was ich aufschrieb, ausgedacht hatte - weil ich die amerikanische Durchschnitts tochter abgeben wollte, die meine Eltern gern gehabt hätten. Ich fiktionalisierte »frühe Doktorspiele« und spätere Schwärmereien für Jungs; ich übertrug meine Gefühle für das Objekt auf Jerome und war ganz verblüfft, wie mir das gelang: Das kleinste Bröckchen Wahrheit ließ die größten Lügen glaubhaft werden.
Natürlich war Luce daran interessiert, was meine Prosa an Geschlechtsspezifischem verriet. Er verglich meine jouissance mit meiner linearen Erzählweise. Er hakte ein bei meinen viktorianischen Schnörkeln, bei meiner altklugen Diktion, meiner Mädchenschul-Züchtigkeit. Das alles wog in seiner
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