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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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ein enttäuschtes Gesicht. Er steckte einen Brillenbügel in den Mund und kaute darauf herum. Möglicherweise hatte er sich ausgemalt, wie es sein könnte, eine ganz neue Population von 5-alpha-Reduktase-Mutationen zu entdecken. Er musste sich damit zufrieden geben, mich entdeckt zu haben.
    Er setzte die Brille wieder auf. »Die Behandlung, die ich für Ihre Tochter empfehlen würde, ist eine zweifache. Erstens Hormoninjektionen. Zweitens kosmetische Operation. Die Hormonbehandlung wird die Entwicklung der Brüste einleiten und ihre weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmale betonen. Durch die Operation wird Callie dann genauso aussehen, wie sie sich als Mädchen fühlt. Ja, sie wird dieses Mädchen sein. Ihr Äußeres und Inneres werden sich angleichen. Sie wird wie ein normales Mädchen aussehen. Keinem wird etwas auffallen. Und dann kann Callie in die Welt hinaus und ihr Leben genießen.«
    Miltons Stirn war vor lauter Konzentration noch gerunzelt, doch seine Augen verströmten Licht, Strahlen der Erleichterung. Er wandte sich Tessie zu und tätschelte ihr das Bein.
    Tessie aber fragte mit zaghafter, brechender Stimme: »Wird sie denn Kinder haben können?«
    Luce stockte nur kurz. »Leider nicht, Mrs. Stephanides. Callie wird nie menstruieren.«
    »Aber sie menstruiert doch schon seit einigen Monaten«, wandte Tessie ein.
    »Das ist leider unmöglich. Vielleicht rührte das Bluten von etwas anderem her.«
    Tessies Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah weg.
    »Ich habe gerade eine Postkarte von einer ehemaligen Patientin bekommen«, sagte Luce tröstend. »Ihre Verfassung war ähnlich der Ihrer Tochter. Sie ist jetzt verheiratet. Sie und ihr Mann haben zwei Kinder adoptiert, und sie sind sehr, sehr glücklich. Sie spielt im Cleveland Orchestra. Fagott.«
    Stille trat ein, dann fragte Milton: »Das ist es nun also, Herr Doktor? Sie machen diese eine Operation, und dann können wir sie mit nach Hause nehmen?«
    »Möglicherweise müssen wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal operieren. Doch die unmittelbare Antwort auf Ihre Frage ist Ja. Nach dem Eingriff kann sie nach Hause.«
    »Wie lange wird sie im Krankenhaus sein?«
    »Nur über Nacht.«
    Es war keine schwierige Entscheidung, zumal Luce sie schon vorformuliert hatte. Eine einzige Operation und ein paar Spritzen würden dem Albtraum ein Ende bereiten und meinen Eltern ihre Tochter, ihre Calliope, intakt zurückgeben. Die gleiche Verlockung, die meine Großeltern bewogen hatte, das Undenkbare zu tun, bot sich nun Milton und Tessie. Niemand würde davon erfahren. Nie.
    Während meine Eltern einen Crashkurs in Gonadogenese erhielten, machte auch ich - offiziell noch immer Calliope meine Hausaufgaben. Im Lesesaal der Public Library schlug ich etwas im Wörterbuch nach. Dr. Luce ging recht in der Annahme, dass mir seine Gespräche mit Kollegen und Medizinstudenten zu hoch waren. Ich wusste nicht, was »5- alpha-Reduktase« bedeutete oder »Gynäkomastie« oder »Canalis inguinalis«. Doch Luce hatte meine Fähigkeiten auch unterschätzt. Den strengen Lehrplan an meiner Schule zog er nicht in Betracht. Er bedachte nicht, dass ich hervorragend Dinge recherchieren und mir selbst erarbeiten konnte. Vor allem aber ließ er den großen Einfluss meiner Lateinlehrerinnen, Miss Barrie und Miss Silber, unbe rücksichtigt. Während meine Wallabees nun also zwischen den Lesetischen Quietschgeräusche machten, so dass einige Männer von ihren Büchern aufblickten, um zu sehen, was da des Weges kam, und den Blick sofort wieder senkten (die Welt war nicht mehr voller Augen), hörte ich Miss Barries Stimme im Ohr. »Kinder, definiert mir dieses Wort: Hypospadie. Nutzt eure Griechisch- oder Lateinkenntnisse.«
    Das kleine Schulmädchen in meinem Kopf zappelte an seinem Pult, die Hand gereckt. »Ja, Calliope?«, rief Miss Barrie mich auf.
    »Hypo. Unter. Wie ›hypodermisch‹.«
    »Ausgezeichnet. Und Spadie?«
    »Ähm, ähm...«
    »Kann jemand unserer armen Muse zu Hilfe eilen?«
    Doch das konnte im Klassenzimmer meines Gehirns niemand. Deshalb also war ich hier. Weil ich wusste, dass ich da unten oder innen drin etwas hatte, aber nicht wusste, was dieses Etwas war.
    Noch nie hatte ich ein so großes Wörterbuch gesehen. Das Webster's in der New Yorker Public Library stand zu anderen mir bekannten Wörterbüchern im selben Verhältnis wie das Empire State Building zu anderen Gebäuden. Es war ein verstaubtes, mittelalterlich wirkendes Ding, in braunes Leder gebunden, das an

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