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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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vorbeifahrenden Bussen. Auf der Fifth Avenue fuhr ein Taxi vor. Ihr Vater sprang heraus, er lächelte und winkte. Als Callie ihn sah, hob sich ihr Herz. Die Stimme des Webster's in ihrem Kopf verstummte. Ihr Vater würde nicht lächeln, wenn das, was der Arzt gesagt hatte, nicht erfreulich gewesen wäre. Callie lachte und sprintete die Treppe vor der Bibliothek nach unten, wäre beinahe gestolpert. Ihre Gefühle wallten für die Zeit auf, die es dauerte, die Straße zu erreichen, vielleicht fünf oder acht Sekunden. Doch als sie Milton näher kam, lernte sie etwas über Krankenberichte. Je mehr die Leute lächeln, desto schlimmer sind die Diagnosen. Milton grinste sie an, schwitzend in seinen Nadelstreifen, und abermals blitzte der Tragödien- Manschettenknopf in der Sonne.
    Sie wussten es. Ihre Eltern wussten, dass sie ein Monstrum war. Und dennoch öffnete ihr Milton die Wagentür, und drinnen saß Tessie und lächelte, als Callie einstieg. Das Taxi brachte sie zu einem Restaurant, und schon bald lasen die drei die Speisekarte und bestellten.
    Milton wartete, bis die Getränke gebracht waren. Dann begann er, etwas förmlich. »Deine Mutter und ich hatten heute Morgen, wie du ja weißt, eine kleine Unterredung mit dem Arzt. Die gute Nachricht ist, dass du noch diese Woche nach Hause kommst.
    Viel Unterricht wirst du nicht versäumen. Und nun die schlechte. Bist du bereit für die schlechte, Cal?«
    Miltons Augen sagten, dass die schlechte Nachricht gar nicht so schlecht war.
    »Die schlechte ist, dass du dich einer kleinen Operation unterziehen musst. Einer ganz kleinen. ›Operation‹ ist eigentlich gar nicht das richtige Wort. Ich glaube, der Arzt hat es (Eingriff) genannt. Du wirst betäubt, und dann musst du über Nacht im Krankenhaus bleiben. Weiter nichts. Du wirst ein bisschen Schmerzen haben, aber dagegen können sie dir Schmerzmittel geben.«
    Hier verstummte Milton. Tessie tätschelte Callie die Hand.
    »Das wird schon, Liebes«, sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Augen waren wässrig, rot.
    »Was für eine Operation?«, fragte Callie ihren Vater.
    »Nur ein kleiner kosmetischer Eingriff. So als würden sie dir ein Muttermal entfernen.« Spielerisch fasste er mit den Knöcheln Callies Nase. »Oder dir die Nase richten.«
    Callie zog ärgerlich den Kopf weg. »Lass das!«
    »Entschuldige«, sagte Milton. Er räusperte sich und zwinkerte.
    »Was habe ich?«, fragte Callie, und da kippte ihre Stimme. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was habe ich, Daddy?«
    Miltons Gesicht verdüsterte sich. Er schluckte. Callie wartete darauf, dass er das Wort sagte, den Webster's zitierte, doch er tat es nicht. Er schaute sie nur über den Tisch hinweg an, den Kopf gesenkt, die Augen dunkel, warm, traurig und voller Liebe. In Miltons Augen war so viel Liebe, dass es unmöglich war, nach der Wahrheit zu forschen.
    »Was du hast, ist was Hormonelles«, sagte er. »Ich hatte immer geglaubt, Männer hätten männliche Hormone und Frauen weibliche. Aber anscheinend hat jeder beide.«
    Callie wartete noch immer.
    »Weißt du, du hast ein bisschen zu viele männliche Hormone und nicht so ganz genug von den weiblichen. Darum will dir der Arzt immer mal wieder eine Spritze geben, damit auch alles richtig funktioniert.«
    Er sagte das Wort nicht. Ich drängte ihn auch nicht.
    »Das ist was Hormonales«, wiederholte er. »Im großen Weltgeschehen ist das ein Klacks.«
    Luce glaubte, eine Patientin meines Alters sei in der Lage, das Wesentliche zu verstehen. Daher nahm er an jenem Nachmittag kein Blatt vor den Mund. Mit seiner sanften, angenehmen, sauber artikulierenden Stimme erklärte Luce, wobei er mir direkt in die Augen sah, ich sei ein Mädchen, dessen Klitoris nur ein klein wenig größer sei als die anderer Mädchen. Er zeichnete mir die gleichen Schaubilder auf wie meinen Eltern. Als ich Genaueres über meine Operation wissen wollte, sagte er nur das: »Wir führen eine Operation durch, um deine Genitalien zu vollenden. Sie sind noch nicht ganz vollendet, und wir wollen sie vollenden.«
    Von Hypospadien erwähnte er nichts, und ich hoffte schon, dass das Wort auf mich gar nicht zutraf. Vielleicht hatte ich es ja aus dem Zusammenhang gerissen. Dr. Luce könnte von einem anderen Patienten gesprochen haben. Im Webster's hatte gestanden, Hypospadien seien eine Anomalie des Penis. Aber Dr. Luce erzählte mir gerade, ich hätte eine Klitoris. Wie ich es verstand, bildete sich beides aus der fetalen Gonade, aber das war wohl

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