Middlesex
egal. Wenn ich eine Klitoris hatte - und ein Spezialist sagte mir, dass dem so sei -, was konnte ich dann anderes als ein Mädchen sein?
Das jugendliche Ego ist etwas Verschwommenes, Amorphes, Wolkiges. Es war nicht schwierig, meine Identität in verschiedene Gefäße zu gießen. In gewisser Weise vermochte ich jede Gestalt anzunehmen, die von mir verlangt war. Ich wollte nur die Dimensionen wissen. Und Luce lieferte sie mir. Meine Eltern unterstützten ihn. Auch für mich war die Aussicht, dass alles geregelt würde, ungeheuer anziehend, und während ich auf der Liege lag, fragte ich mich nicht, wie meine Gefühle für das Objekt da wohl hin-einpassten. Ich wollte nur, dass alles vorbei war. Ich wollte nach Hause und vergessen, dass es das überhaupt gegeben hatte. Also hörte ich Luce zu und machte keine Einwände.
Er erklärte, die Östrogeninjektionen würden meine Brüste zum Wachsen bringen. »Du wirst keine Raquel Welch, aber auch keine Twiggy.« Meine Gesichtsbehaarung werde zurückgehen. Meine Stimme werde nach oben klettern, von Tenor zu Alt. Aber als ich ihn fragte, ob ich dann endlich auch meine Periode bekäme, war Dr. Luce ganz offen. »Nein. Niemals. Du wirst auch nicht Kinder bekommen können, Callie. Wenn du eine Familie haben möchtest, musst du welche adoptieren.«
Ich nahm diese Nachricht ruhig auf. Ans Kinderkriegen dachte ich mit meinen vierzehn nicht eben oft.
Es klopfte an die Tür, und die Schwester vom Empfang steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie, Dr. Luce. Ob ich Sie wohl kurz stören könnte?«
»Das hängt von Callie ab.« Er lächelte mich an. »Macht's dir was aus, ein Päuschen einzulegen? Ich bin gleich zurück.«
»Macht mir nichts.«
»Bleib doch ein paar Minuten da sitzen und überleg dir, ob du noch weitere Fragen hast.« Er verließ das Zimmer.
Mir fielen keine weiteren Fragen ein. Ich saß auf meinem Stuhl und dachte an überhaupt nichts. Mein Kopf war seltsam leer. Es war die Leere des Gehorsams. Mit dem unfehlbaren Instinkt des Kindes hatte ich gemutmaßt, was meine Eltern von mir wollten. Sie wollten, dass ich blieb, wie ich war. Und genau das hatte Dr. Luce versprochen.
Eine lachsfarbene Wolke, die tief am Himmel vorbeizog, holte mich aus meiner Versunkenheit. Ich stand auf und ging ans Fenster, um auf den Fluss hinabzuschauen. Ich drückte die Wange gegen die Scheibe, um so weit wie möglich nach Süden sehen zu können, wo die Wolkenkratzer aufragten. Ich sagte mir, ich wolle später in New York leben. »Das ist die Stadt für mich«, sagte ich. Ich hatte wieder angefangen zu weinen. Ich versuchte aufzuhören. Die Augen trocken tupfend, lief ich im Sprechzimmer auf und ab und stand schließlich vor einer der Mughal-Miniaturen. In dem kleinen Ebenholzrahmen schliefen zwei winzige Figuren miteinander. Trotz der Anstrengung, auf die ihre Aktivitäten schließen ließen, wirkten ihre Gesichter friedvoll. Ihre Mienen verrieten weder Anspannung noch Ekstase. Die Geometrie der sich liebenden Körper, die anmutige Kalligraphie ihrer Gliedmaßen, lenkte den Blick auf ihre Genitalien. Das Schamhaar der Frau war wie ein Flecken Immergrün auf weißem Schnee, das Glied des Mannes wie eine Redwood-Kiefer, die daraus aufstieg. Ich sah hin. Ich sah noch einmal hin, um herauszufinden, wie andere Menschen ausgestattet waren. Dabei schlug ich mich auf keine Seite. Ich verstand sowohl das Drängen des Mannes wie auch die Lust der Frau. Mein Kopf war nicht mehr leer. Ich füllte ihn mit einem dunklen Wissen.
Ich drehte mich, nein wirbelte herum und schaute auf Dr. Luces Schreibtisch. Da lag eine Akte offen. Er hatte sie in der Eile einfach liegen lassen.
VORSTUDIE:
ZYTOGENETISCH XY (MÄNNLICH), ALS MÄDCHEN AUFGEWACHSEN Der folgende anschauliche Fall zeigt, dass es keine vorherbestimmte Korrespondenz zwischen genetischer und genitaler Struktur gibt, auch nicht zwischen männlichem oder weiblichem Verhalten und dem Chromoso mensatz.
PERSON: Calliope Stephanides BEFRAGENDER ARZT: Peter Luce, M. D.
VORGESCHICHTE: Das Kind ist vierzehn Jahre alt. Es hat sein ganzes bisheriges Leben als Mädchen gelebt. Bei der Geburt somatische Erscheinung eines Penis, der so klein war, dass er als Klitoris angesehen wurde. Der Chromosomensatz XY des Mädchens wurde erst in der Pubertät entdeckt, als es zu virilisieren begann. Die Eltern schenkten dem Arzt, der ihnen dies eröffnete, zunächst keinen Glauben und holten folglich zwei weitere Meinungen ein, bevor sie sich in der Ambulanz für
Weitere Kostenlose Bücher