Middlesex
gestorben ist. Das ist sehr existenziell.«
»Das ist was?«
»Was?«
»Existenziell?«
Er sah mich durchdringend an. »Ein Existenzialist ist einer, der für den Augenblick lebt.«
Noch nie hatte jemand so mit mir geredet. Es gefiel mir. Während wir weiter durch die gelbe Landschaft fuhren, erzählte mir Scheer noch andere interessante Dinge. Ich hörte von lonesco und dem Theater des Absurden. Auch von Andy Warhol und Velvet Underground. Die Erregung auszudrücken, die so etwas in einem Jugendlichen aus der kulturellen Provinz wie mir auslöste, fällt schwer. Die Armspangen taten, als kämen sie von der Ostküste, und ich glaube, diesen Drang hatte ich jetzt auch.
»Haben Sie mal in New York gelebt?«, fragte ich.
»Früher, ja.«
»Ich komme gerade von da. Irgendwann möchte ich da leben.«
»Ich habe zehn Jahre dort gelebt.«
»Warum sind Sie weggegangen?«
Wieder dieser Blick. »Ich bin eines Morgens aufgewacht, und mir ist klar geworden, wenn ich das nicht mache, bin ich in einem Jahr tot.«
Auch das fand ich wunderbar.
Scheers Gesicht war hübsch, blass, seine grauen Augen hatten einen asiatischen Schnitt. Die hellbraunen Kraushaare waren ordentlichst gebürstet und despotisch gescheitelt. Nach einer Weile bemerkte ich weitere Feinheiten an seinem Äußeren, die Manschettenknöpfe mit Monogramm, die italienischen Slipper. Ich mochte ihn auf der Stelle. Scheer war ein Mann, wie ich gern einmal einer sein wollte.
Plötzlich ertönte aus dem Heck des Wagens ein langge zogener, matter, seelenleerender Seufzer.
»Alles klar, Franklin?«, rief Scheer.
Als er seinen Namen hörte, hob Franklin sein sorgenvolles, stattliches Haupt aus den Tiefen des Heckraums, und ich sah die Schwarzweißzeichnung eines Englischen Setters. Er musterte mich kurz mit alten, rheumatischen Augen und ließ sich wieder fallen.
Unterdessen bog Scheer vom Highway ab. Auf der Schnellstraße hatte er einen lockeren Fahrstil, aber bei jedem schwierigeren Fahrmanöver kippten seine Bewegungen ins Militärische, und er bearbeitete das Lenkrad mit kräftigen Händen. Er fuhr auf den Parkplatz vor einem Supermarkt. »Bin gleich wieder da.«
Eine Zigarette auf Hüfthöhe wie eine Reitgerte haltend, ging er mit knappen Schritten in den Laden. Während er fort war, sah ich mich in dem Wagen um. Er war makellos sauber, jede der Fußmatten frisch gesaugt. Das Handschuhfach enthielt sorgsam gefaltete Landkarten und Kassetten von Mabel Mercer. Scheer kam mit zwei vollen Einkaufstüten zurück.
»Ich finde unterwegs was zu trinken in Ordnung«, sagte er.
Er hatte einen Zwölferkarton Bier gekauft, zwei Flaschen Blue Nun und eine Flasche Lancers Rose in einer unechten Tonflasche. Das alles stellte er auf den Rücksitz.
Auch das gehörte zum Kultiviertsein. Man trank billigen Liebfraumilch aus Plastikbechern, nannte es Cocktail und säbelte mit einem Schweizer Messer dicke Brocken Cheddar- Käse ab. Scheer hatte mit bescheidenen Mitteln eine hübsche Vorspeisenplatte zusammengestellt. Oliven gab es auch. Wir fuhren weiter durch das Niemandsland, während Scheer mich anwies, den Wein aufzumachen und ihm Häppchen zu reichen.
Ich war nun sein Page. Ich musste eine Mabel-Mercer-Kassette einlegen, dann erklärte er mir, wie präzise sie phrasierte.
Plötzlich wurde er laut. »Cops. Runter mit dem Glas.«
Rasch ließ ich meinen Blue Nun sinken, und wir rollten dahin, stoisch bis in die Knochen, selbst als der Staatspolizist uns links überholte.
Scheer tat, als spreche der Cop: »Ich erkenne Stadtschnösel auf`n ersten Blick, und die beiden da, das sind die Aller schnöseligsten. Die führen bestimmt nix Gutes im Sinn.«
Worauf ich lauthals lachte, glücklich darüber, einen Verbündeten gegen die Welt der Heuchler und Rechtsverdreher gefunden zu haben.
Als es dunkelte, steuerte Scheer ein Steakhaus an. Ich befürchtete, es könnte zu teuer sein, doch er sagte: »Heute Abend geht das Essen auf mich.«
Es war fast voll, ein beliebtes Lokal, der einzig freie Tisch ein kleiner bei der Bar.
Zur Bedienung sagte Scheer: »Für mich bitte einen Wodka Martini, sehr trocken, zwei Oliven, und mein Sohn trinkt ein Bier.«
Die Bedienung sah mich an.
»Hat er einen Ausweis bei sich?«
»Nein«, sagte ich.
»Dann kann ich dir auch keins bringen.«
»Ich war bei seiner Geburt dabei. Ich kann mich für ihn verbürgen«, sagte Scheer.
»Tut mir Leid, kein Ausweis, kein Alkohol.«
»Na gut«, sagte Scheer. »Ich hab's mir anders überlegt. Ich
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