Middlesex
Luce«, sagte Milton. »Auf dem Zettel, den sie hinterlassen hat, hat unsere Tochter Sie einen Lügner genannt. Ich hätte gern eine Erklärung, warum sie das geschrieben haben könnte.«
Luce lächelte nachsichtig. »Sie ist vierzehn. Misstraut Erwachsenen.«
»Können wir die Akte einsehen?«
»Das wird Ih nen nichts nützen. Geschlechtliche Identität ist sehr komplex. Sie ist keine Sache reiner Genetik. Ebenso wenig eine Sache rein milieubedingter Faktoren. In einem kritischen Augenblick kommen Gene und Milieu zusammen. Wir haben es also nicht mit zwei, sondern mit drei Faktoren zu tun.«
»Eines möchte ich klar wissen«, unterbrach ihn Milton. »Sind Sie als Arzt nach wie vor der Meinung, dass Callie so bleiben sollte, wie sie ist?«
»Anhand der psychologischen Beurteilung, die ich in der kurzen Zeit, in der ich Callie behandelt habe, erstellen konnte, würde ich sagen, ja; meiner Meinung nach hat sie eine weibliche Geschlechtsidentität.«
Tessie verlor die Fassung und klang verzweifelt. »Aber warum sagt sie dann, sie ist ein Junge?«
»Zu mir hat sie das nie gesagt«, sagte Luce. »Das ist ein neues Teil des Puzzles.«
»Ich will die Akte sehen«, forderte Milton.
»Das ist leider nicht möglich. Die Akte ist für meine privaten Forschungszwecke bestimmt. Callies Blutwerte und die anderen Testergebnisse dürfen Sie gern sehen.«
Da explodierte Milton. Brüllte Dr. Luce an und beschimpfte ihn. »Ich mache Sie verantwortlich. Hören Sie? Es ist nicht die Art unserer Tochter, einfach so davonzulaufen. Sie müssen etwas mit ihr gemacht haben. Sie haben ihr Angst gemacht.«
»Ihre körperliche Verfassung hat ihr Angst gemacht, Mr. Stephanides«, sagte Luce. »Und eines möchte ich betonen.« Er klopfte mit den Knöcheln auf die Schreibtischplatte. »Es ist von überragender Bedeutung, dass Sie sie so schnell wie möglich finden. Die Auswirkungen könnten ansonsten sehr ernst sein.«
»Was sagen Sie da?«
»Depressionen. Dysphorie. Sie ist in einem sehr labilen psychischen Zustand.«
»Tessie«, sagte Milton und blickte zu seiner Frau, »willst du die Akte sehen, oder sollen wir gehen, damit uns dieses Arschloch den Buckel runterrutschen kann.«
»Ich möchte die Akte sehen.« Sie schniefte. »Und sag bitte nicht solche Sachen. Wir wollen doch höflich bleiben.«
Schließlich hatte Luce nachgegeben und ihnen Einblick gewährt. Nachdem sie die Akte gelesen hatten, bot er ihnen an, den Fall zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auszuwerten, und gab der Hoffnung Ausdruck, dass man mich bald finden werde.
»Nicht in tausend Jahren würde ich mit Callie noch einmal zu ihm gehen«, sagte meine Mutter auf dem Weg nach draußen.
»Ich weiß nicht, womit er Callie so aufgeregt hat«, sagte mein Vater, »aber irgendwas hat er gemacht.«
Es war Ende September, als sie in die Middlesex zurückkehrten. Die Blätter fielen von den Ulmen, nahmen der Straße ihren Schutz. Es wurde kälter, und nachts in ihrem Bett horchte Tessie auf den Wind und das raschelnde Laub und fragte sich, wo ich wohl schlief und ob mir auch nichts zugestoßen war. Die Beruhigungsmittel dämpften ihren Schrecken nicht, sondern verlagerten ihn. Unter ihrem Einfluss zog sich Tessie in einen inneren Kern ihrer selbst zurück, auf eine Art Aussichtsplattform, von wo aus sie ihre Sorgen beobachten konnte. Dann setzte ihr ihre Angst ein bisschen weniger zu. Von den Tabletten bekam sie einen trockenen Mund. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, und am Rand ihres Blickfelds tanzten Sternchen. Sie sollte nur jeweils eine Tablette nehmen, aber oft nahm sie zwei.
Zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit gab es einen Raum, in dem Tessie am besten denken konnte. Tagsüber umgab sie sich mit Gesellschaft - ständig kamen Leute mit Essen vorbei, dann musste sie Geschirr bereitstellen und anschließend spülen - , aber nachts, wenn sie sich der Betäubung näherte, fand sie den Mut, sich mit dem Brief, den ich hinterlassen hatte, auseinander zu setzen.
Es war meiner Mutter unmöglich, in mir etwas anderes zu sehen als ihre Tochter. Ihre Gedanken kreisten immerzu um dasselbe. Mit halb geöffneten Augen blickte Tessie durch das dunkle Schlafzimmer, in dessen Winkeln es schimmerte und blitzte, und sah alles vor sich, was ich je getragen oder besessen hatte. All diese Dinge schienen am Fußende des Bettes aufgehäuft zu sein - die Socken mit den Borten, die Puppen, die Haarspangen, die ganze Sammlung Madeline- Bücher, die Partykleider,
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