Middlesex
entgegentrieb. In den vierziger Jahren verbarg der Nebel das Treiben der Matrosen vor ihren Mitbürgern. Da war der Nebel noch längst nicht fertig. In den fünfziger Jahren lag er den Beatniks auf den Köpfen wie der Schaum auf ihren Cappuccinos. In den sechziger Jahren vernebelte er den Hippies das Hirn wie der Haschrauch, der aus ihren Bongs aufstieg. Und in den siebziger Jahren, als Cal Stephanides eintraf, verbarg der Nebel meine neuen Freunde und mich im Park.
An meinem dritten Tag in Haight saß ich in einem Cafe und aß einen Bananasplit. Es war mein zweiter. Der Reiz meiner neuen Freiheit nutzte sich ab. Süßigkeitenprassen ver scheuchte die Melancholie nicht mehr wie noch vor einer Woche.
»Haste mal bisschen Kleingeld?«
Ich blickte auf. Neben meinem marmornen Bistrotischchen lümmelte ein Typ, den ich gut kannte. Er war einer der Straßenkinder, der abgerissenen Ausreißer, von denen ich mich fern hielt. Die Kapuze seines Sweatshirts war über den Kopf gezogen, und sie rahmte das gerötete Oval eines Gesichts ein, das von Pickeln nur so strotzte.
»Tut mir Leid«, sagte ich.
Der Junge beugte sich vor, näherte sein Gesicht dem meinen.
»Haste mal bisschen Kleingeld?«, sagte er erneut.
Seine Hartnäckigkeit ärgerte mich. Also sah ich ihn finster an und sagte: »Ich könnte dich dasselbe fragen.«
»Ich schaufle mir aber keinen Eisbecher rein.«
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab nichts für dich.«
Er warf einen Blick hinter mich und fragte umgänglicher: »Wie kommts dann, dass du diesen Wahnsinnskoffer mit dir rumschleppst?«
»Geht dich nichts an.«
»Ich hab dich schon gestern mit dem Ding gesehen.«
»Ich hab genug Geld für das Eis, mehr nicht.«
»Haste nichts zum Pennen?«
»Ich hab tausend Möglichkeiten.«
»Wenn du mirn Burger kaufst, zeig ich dir, wo du pennen kannst.«
»Ich hab doch gesagt, ich hab tausend Möglichkeiten.«
»Ich weiß ne gute Stelle im Park.«
»Ich kann allein in den Park. Jeder kann in den Park.«
»Aber nicht, wenn er nicht ausgenommen werden will. Du weißt ja nicht, was hier abläuft, Mann. Im Gate gibts Stellen, die sind sicher, und welche, die sind nicht sicher. Ich und meine Freunde haben ne richtig gute. Echt abgeschieden. Nicht mal die Cops kennen die, also können wir die ganze Zeit Party machen. Ich könnte dich auch da hinlassen, aber erst muss der doppelte Cheese her.«
»Eben war's noch ein Hamburger.«
»Wer rastet, rostet. Die Preise steigen ständig. Wie alt bistn überhaupt?«
»Achtzehn.«
»Ja, klar, glaubste doch selbst nicht. Du bist keine achtzehn. Ich bin sechzehn, und du bist nicht älter als ich. Bist du aus Marin?«
Ich schüttelte den Kopf. Es war einige Zeit her, dass ich mit einem Altersgenossen gesprochen hatte. Es tat gut. Es machte mich weniger einsam. Trotzdem blieb ich auf der Hut.
»Bistn reicher Typ, was? Mr. Alligator?«
Ich sagte nichts. Und auf einmal flehte er nur noch, bettelte wie ein Kind, und ihm zitterten die Knie. »Komm schon, Mann. Ich hab Hunger. Na gut, vergiss den doppelten Cheese. Bloßn Burger.«
»Meinetwegen.«
»Klasse. Ein Burger. Und Pommes. Du hast doch Pommes gesagt, oder? Du wirst es nicht glauben, Mann, aber ich hab auch reiche Eltern.«
Und so begann meine Zeit im Golden Gate Park. Wie sich herausstellte, hatte Matt, mein neuer Freund, was seine Eltern anging, nicht gelogen. Er stammte aus der besten Gegend Philadelphias, der Main Line, wo sein Vater Scheidungsanwalt war. Matt war das vierte Kind, das jüngste. Stämmig, mit einer Kinnlade wie ein Depp, einer kehligen, vom Rauchen rauen Stimme, war er im vorigen Sommer von zu Hause fortgegangen, um den Grateful Dead hinterherzureisen, und dabei war es geblieben. Er verkaufte auf ihren Konzerten gebatikte T-Shirts und, wenn er konnte, Dope oder LSD. In den Tiefen des Parks, in die er mich führte, saßen seine Kohorten.
»Das ist Cal«, sagte Matt zu ihnen. »Der pennt hier jetzt ne Weile.«
»Ist geritzt.«
»Bist dun Leichenbestatter, he?«
»Ich hab erst gedacht, das ist Abe Lincoln.«
»Nö, das sind bloß Cals Reiseklamotten«, sagte Matt. »In dem Koffer da hat er noch andre. Stimmts?«
Ich nickte.
»Willstn Hemd kaufen? Ich hab Hemden hier.«
»Einverstanden.«
Das Lager befand sich in einem Mimosenwäldchen. Die flaumigen roten Blüten an den Zweigen sahen aus wie Rohrreiniger. Über die Dünen verstreut standen riesige immergrüne Büsche, die natürliche Hütten bildeten. Sie waren hohl, und der Boden darunter
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