Middlesex
sich in der Küche und bereiteten das Essen zu, die Männer saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich gedämpft. Milton holte die staubigen Flaschen aus der Schnapsvitrine. Er zog die Flasche Crown Royal aus ihrem lila Samtsack und stellte sie unseren Gästen hin. Unser altes Backgammonbrett kam unter einem Stapel Brettspiele hervor, und einige der älteren Frauen begannen wieder, ihre Betperlen zu zählen. Alle wussten, dass ich weggelaufen war, aber keiner wusste, warum. Heimlich sagten sie zueinander: »Glaubst du, sie ist schwanger?« Und:
»Hatte Callie einen Freund?« Und: »Sie war doch immer so ein gutes Kind. Ich hätte nie gedacht, dass sie so etwas anstellen würde.« Und: »Immer mit ihrem Kind geprotzt, das nur Einsen an dieser schniekigen Schule hatte. Na, jetzt ist ihnen das Protzen vergangen.«
Father Mike hielt Tessie die Hand, als sie oben im Haus leidend auf dem Bett lag. Nur in seinem schwarzen, kurzärmeligen Hemd und dem Kragen - die Jacke hatte er ausgezogen -, sagte er ihr, er werde für meine Rückkehr beten. Er riet Tessie, zur Kirche zu gehen und eine Kerze für mich anzuzünden. Heute frage ich mich, was Father Mike wohl für ein Gesicht machte, als er meiner Mutter da im Elternschlafzimmer die Hand hielt. Lag eine Spur von Schadenfreude darin? Von Freude am Leid seiner ehemaligen Verlobten? Von Genugtuung, dass das ganze Geld seinen Schwager nicht vor diesem Unglück hatte schützen können? Oder von Erleichterung darüber, dass seine Frau Zoe ihn auf der Heimfahrt ausnahmsweise einmal nicht ungünstig mit Milton vergleichen würde? Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Und meine Mutter, sie war sediert; sie weiß nur noch, dass der Druck in ihren Augen Father Mikes Gesicht seltsam lang gezogen erscheinen ließ, wie bei einem Priester auf einem Gemälde von El Greco.
Nachts schlief Tessie unruhig. Immer wieder weckte sie die Angst. Morgens machte sie das Bett, legte sich aber manchmal gleich nach dem Frühstück wieder hinein, nachdem sie ihre winzigen weißen Keds ordentlich auf den Teppich gestellt und die Rouleaus heruntergelassen hatte. Sie bekam Ränder unter den Augen, und die blauen Adern an ihren Schläfen pochten so, dass man es sehen konnte. Wenn das Telefon klingelte, war ihr, als platze ihr der Kopf.
»Hallo?«
»Was gehört?« Es war Tante Zo. Tessie wurde das Herz schwer.
»Nein.«
»Sorg dich nicht. Sie kommt schon.«
Sie redeten noch ein bisschen, dann sagte Tessie, sie müssten jetzt aufhören. »Ich darf die Leitung nicht blockieren.«
Jeden Morgen senkt sich eine große Nebelwand auf San Francisco. Sie beginnt weit draußen auf dem Meer. Sie bildet sich über den Farallon-Inseln, umhüllt die Seehunde auf ihren Felsen, wallt dann über Ocean Beach herein und füllt die lange grüne Schale des Golden Gate Park. Der Nebel verbirgt die morgendlichen Jogger und die einsamen Schattenboxer. Er trübt die Scheiben des Glass Pavillon. Er kriecht über die ganze Stadt, über die Denkmäler und Kinos, über die Haschhöhlen im Panhandle und die Absteigen im Tenderloin. Der Nebel bedeckt die pastellenen viktorianischen Herrenhäuser in Pacific Heights und umwabert die regenbogenfarbenen Villen im Haight. Er schreitet die gewundenen Straßen von Chinatown auf und ab; er besteigt die Cable Cars, lässt ihre scheppernden Glocken wie Bojen klingen; er erklimmt die Spitze des Colt Tower, bis man sie nicht mehr sehen kann; er rückt auf die Mission vor, wo die Mariachispieler noch schlafen; und er ärgert die Touristen. Der Nebel San Franciscos, dieser kalte, Identität hinweg waschende Dunst, der sich täglich über die Stadt wälzt, erklärt besser als alles andere, warum sie ist, was sie ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg war San Francisco der Ort, an dem die meisten Matrosen vom Pazifik an Land kamen. Auf See hatten sich viele dieser Matrosen amouröse Angewohnheiten zugelegt, denen man an Land mit Stirnrunzeln begegnete. Also blieben diese Matrosen in San Francisco, wuchsen an Zahl und zogen Gleichgesinnte an, bis die Stadt zur Hauptstadt der Schwulen wurde. (Ein weiterer Beweis für die Unvorhersehbar keit des Lebens: Das Castro-Viertel ging aus dem Militär- und Industrieareal hervor.) Es war der Nebel, der jene Matrosen anzog, weil er der Stadt das Wogende, Anonyme der See verlieh und weil in einer solchen Anonymität ein Wechsel der Persönlichkeit viel einfacher war. Manchmal ließ es sich schwer sagen, ob der Nebel über die Stadt hereinrollte oder ob die Stadt ihm
Weitere Kostenlose Bücher