Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
die roten Riemchenpumps, die Trägerkleidchen, der Puppenherd, der Hula-Hoop-Reifen. Diese Gegenstände waren der Pfad, der zurück zu mir führte. Wie konnte ein solcher Pfad zu einem Jungen führen?
    Und dennoch, schien es, traf jetzt genau das zu. Tessie ließ die Ereignisse der vergangenen eineinhalb Jahre Revue passieren, suchte nach Hinweisen, die ihr vielleicht entgangen waren. Das unterschied sich nicht so sehr von dem, was jede Mutter angesichts einer schockierenden Enthüllung über ihre heranwachsende Tochter tun würde. Wäre ich an einer Überdosis Drogen gestorben oder hätte mich einer Sekte angeschlossen, dann wäre das Grübeln meiner Mutter weitgehend auf derselben Bahn verlaufen. Die Neubewertung war dieselbe, aber die Fragen waren andere. War ich deshalb so groß? War das die Erklärung dafür, dass ich keine Periode hatte? Sie dachte an unsere Wachstermine im Golden Fleece und an meinen rauen Alt - an alles eigentlich: dass ich die Kleider nie so richtig richtig ausfüllte, dass Frauenhandschuhe mir nicht mehr passten. In allem, was Tessie als Teil des schwierigen Alters hingenommen hatte, witterte sie nun Unheil. Dass sie das nicht gewusst hatte! Sie war doch meine Mutter, sie hatte mir das Leben geschenkt, sie war mir näher als ich mir selbst. Mein Schmerz war ihr Schmerz, meine Freude ihre Freude. Aber hatte Callie nicht manchmal einen seltsamen Gesichtsausdruck gehabt? So intensiv, so... maskulin. Und nirgends ein Gramm Fett, nirgends, nur Knochen, keine Hüften. Aber das war doch unmöglich... und Dr. Luce hatte gesagt, dass Callie ein... und warum hatte er nichts von Chromosomen gesagt... und wie konnte das alles wahr sein? So wirbelten die Gedanken meiner Mutter, und sie wurden immer düsterer, und das Schimmern hörte auf. Und nachdem sie das alles gedacht hatte, dachte Tessie über das Objekt nach, über meine enge Freundschaft mit dem Objekt. Sie erinnerte sich an den Tag, als das Mädchen bei der Aufführung gestorben war, daran, wie sie hinter die Bühne gerannt war und gesehen hatte, wie ich das Objekt im Arm hielt, sie tröstete, ihr über die Haare strich, und an den wilden Zug auf meinem Gesicht, in dem gar keine Trauer lag...
    Vor diesem letzten Gedanken schreckte Tessie zurück.
    Milton dagegen verschwendete keine Zeit damit, das Offensichtliche neu zu bewerten. Auf Hotelbriefpapier hatte Callie verkündet: »Ich bin kein Mädchen.« Aber Callie war doch noch ein Kind. Was wusste sie schon? Kinder sagen alle möglichen verrückten Sachen. Mein Vater verstand nicht, weswegen ich vor der Operation geflüchtet war. Er konnte nicht begreifen, warum ich nicht instand gesetzt, geheilt werden wollte. Und er war sich sicher, dass Spekulationen über meine Gründe wegzulaufen abwegig waren. Zunächst einmal musste ich gefunden werden. Ich musste gesund und wohlbehalten wieder da sein. Dann erst konnte man sich dem medizinischen Befund zuwenden.
    Und diesem Ziel widmete sich Milton. Täglich verbrachte er einen Großteil seiner Zeit am Telefon, sprach mit Polizeirevieren im ganzen Land. Er strapazierte die Nerven des Inspektors in New York, fragte ihn ständig, ob es in meinem Fall Fortschritte gebe. In der öffentlichen Bibliothek schrieb er sich die Nummern von Polizeirevieren und Anlaufstellen für Ausreißer heraus, dann arbeitete er die Liste systematisch ab, rief überall an und fragte, ob man nicht jemanden gesehen habe, der seiner Beschreibung entspreche. Den Polizeirevieren schickte er mein Foto und seinen Franchise-Unternehmern eine Mitteilung, in der er bat, in jedem Hercules-Restaurant mein Bild aufzuhängen. Lange bevor mein nackter Körper in medizinischen Lehrbüchern erschien, erschien mein Gesicht landauf, landab auf schwarzen Brettern und in Schaufenstern. Ein Foto erhielt auch die Polizei von San Francisco, doch die Chance, dass man mich daraufhin würde erkennen können, war inzwischen gering geworden. Wie ein echter Gesetzloser hatte ich mein Äußeres verändert. Und Tag um Tag vervollkommnete die Biologie meine Verkleidung.
    Die Middlesex füllte sich wieder mit Freunden und Verwandten. Tante Zo kam mit unseren Cousins und der Cousine vorbei, um meine Eltern moralisch zu unterstützen. Peter Tatakis schloss seine chiropraktische Praxis an einem Tag früher und fuhr von Birmingham herbei, um mit Milt und Tessie zu Abend zu essen. Jimmy und Phyllis Fioretos brachten koulouria und Eis. Es war, als hätte es die Invasion Zyperns nie gegeben. Die Frauen versammelten

Weitere Kostenlose Bücher