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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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war trocken. Die Büsche hielten den Wind ab, meistens auch den Regen. Drinnen war genug Platz, dass man sich aufsetzen konnte. In jedem Busch gab es einige Schlafsäcke; wollte man schlafen, suchte man sich einen aus, der gerade leer war. Es herrschten Gepflogenheiten wie in einer Kommune. Immer wieder kamen neue Jungen ins Lager, andere verließen es. Die Ausrüstung bestand aus dem, was sie zurückgelassen hatten: ein Campingkocher, ein Nudeltopf, diverses Besteck, Einmachgläser, Bettzeug und eine im Dunkeln leuchtende Frisbee-Scheibe, die die Jungen hin und her warfen, wobei sie manchmal auch mich mitmachen ließen, um die Mannschaften auszugleichen. (»Mensch, Gator, du wirfst wien Mädchen, Mann.«) Sie waren bestens ausgestattet mit Studentenfutter, Bongs, Haschpfeifen, Amylnitrat fläschchen, dafür waren Handtücher, Unterwäsche und Zahnpasta knapp. Ungefähr dreißig Meter weiter war ein Graben, der als Latrine diente. Der Brunnen beim Aquarium war eine gute Waschgelegenheit, aber man musste es nachts erledigen, damit man nicht an die Polizei geriet.
    Hatte einer der Jungen eine Freundin, war eine Weile auch ein Mädchen da. Von denen hielt ich mich fern, weil ich das Gefühl hatte, sie könnten mein Geheimnis erraten. Ich war wie ein Einwanderer, der blasiert tut, wenn er einem aus dem Heimatland begegnet. Ich wollte nicht durchschaut werden, also zeigte ich mich zugeknöpft. Aber in dieser Gemeinschaft wäre ich ohnehin lakonisch gewesen. Sie waren alle Deadheads, und die Dead waren ihr einziges Thema. Wer Jerry an welchem Abend gesehen hatte. Wer eine Bootleg von welchem Konzert besaß. Matt war von der Highschool geflogen, hatte aber ein eindrucksvolles Gehirn, wenn es darum ging, jede Nichtigkeit über die Dead abzuspeichern. Er hatte sämtliche Daten und Städte ihrer Tournee im Kopf. Er kannte den Text jedes einzelnen Songs, wusste, wann und wo und wie oft die Dead ihn gespielt hatten und welche Songs nur einmal drangekommen waren. Er lebte in der Erwartung, dass bestimmte Songs gebracht wurden, wie die Gläubigen den Messias erwarten. Irgendwann einmal würden die Dead »Cosmic Charlie« spielen, und dann wollte Matt Larson dabei sein, um zu sehen, wie die Schöpfung sich erfüllte. Einmal hatte er Mountain Girl gesehen, Jerrys Frau. »Die war so scheißcool«, sagte er. »So eine Frau würd ich scheißgern lieben. Wenn ich eine fand, die so cool ist wie Mountain Girl, würd ich sie heiraten und Kinder kriegen und den ganzen Kack.«
    »Auch nen Job annehmen?«
    »Wir könnten mit auf die Tournee. Unsere Babys immer in Säckchen dabeihaben. Wie die Indianer das machen. Und Gras verkaufen.«
    Wir waren nicht die Einzigen, die im Park lebten. In einigen Dünen auf der anderen Seite des Geländes hockten Obdachlose mit langen Bärten, die Gesichter braun von Sonne und Schmutz. Man wusste, dass sie andere Lager plünderten, daher ließen wir unseres nie unbeaufsichtigt. Das war im Wesentlichen die einzige Regel, die wir hatten. Immer musste einer Wache stehen.
    Ich blieb bei den Deadheads bloß deshalb, weil ich allein Angst gehabt hätte. Auf meiner Reise hatte ich die Vorteile eines Rudels schätzen gelernt. Wir waren aus unterschiedlichen Gründen von zu Hause weggelaufen. Unter normalen Umständen hätte ich mich mit diesen Jungen niemals angefreundet, aber für die kurze Zeit ließ ich mich auf sie ein; ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte. Ganz wohl war mir bei ihnen nie. Aber besonders grausam waren sie auch wieder nicht. Hatten sie getrunken, kam es zu Prügeleien, aber im Grunde war ihr Ethos Gewaltfreiheit. Alle lasen sie Siddhartha. Ein altes Taschenbuch, das im Lager herumging. Auch ich las es. Eines der Bilder aus jener Zeit, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind: Cal sitzt auf einem Stein, liest Hermann Hesse und lernt etwas über Buddha.
    »Ich hab gehört, Buddha hat Trips eingeworfen«, sagte ein Head. »Da hatte er seine Erleuchtung.«
    »Damals gabs doch noch gar keine Trips, Mann.«
    »Nein, das war doch, na ja, son Ashram.«
    »Ich glaub, Jerry ist der Buddha, Mann.«
    »Yeah!«
    »Also, Scheiße, als ich Jerry den abgespaceten Fünfundvierzig-Minuten-Jam ›Truckin‹ in Santa Fe' hab spielen sehen, da hab ich gewusst, er ist Buddha.«
    An allen diesen Gesprächen beteiligte ich mich nicht. Stellen Sie sich Cal so vor: abseits unter den herabhängenden Zweigen, während die Deadheads in den Schlaf dämmerten.
    Ich war ausgerissen, ohne zu überlegen, wie mein

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