Middlesex
strampelte. Doch sie waren zu stark. Sie zogen mir die Hose auf die Knie. Der eine richtete die Taschenlampe auf mich und prallte zurück.
»Herrgott verflucht!«
»Was?«
»Scheiße!«
»Was?«
»Eine Missgeburt.«
»Was?«
»Ich kotz gleich, Mann. Sieh doch!«
Kaum hatte der andere hingesehen, ließ er von mir ab, als wäre ich verseucht. Wutentbrannt stand er auf. In stummer Übereinkunft traten sie auf mich ein. Dabei stießen sie Flüche aus. Der, der mich festgehalten hatte, rammte mir die Schuhspitze in die Seite. Ich packte sein Bein und klammerte mich daran fest.
»Lass mich los, du Missgeburt!«
Der andere trat gegen meinen Kopf. Nach drei, vier Tritten verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, war alles still. Ich hatte den Eindruck, dass sie fort waren. Dann kicherte jemand. »Wir kreuzen die Klingen«, sagte eine Stimme. Die gelben Zwillingsstrahlen funkelten, schnitten sich, durchnässten mich.
»Verzieh dich wieder in das Loch, aus dem du gekrochen bist, du Missgeburt.«
Sie ließen mich liegen.
Es war noch dunkel, als ich den öffentlichen Brunnen am Aquarium erreichte und darin badete. Anscheinend blutete ich nicht. Mein rechtes Auge war zugeschwollen. Meine Seite schmerzte, wenn ich tief Luft holte. Ich hatte den Samsonite meines Vaters mitgenommen. In meiner Tasche waren noch fünfundsiebzig Cent. Ich wünschte mir mehr als alles andere, nach Hause telefonieren zu können. Stattdessen rief ich Bob Presto an. Er sagte, er sei gleich da und hole mich.
HERMAPHRODITOS
Es überrascht nicht, dass Luce' Theorie der geschlechtlichen Identität Anfang der siebziger Jahre so verbreitet war. Damals wollte, wie mein erster Friseur es formulierte, jeder »unisex« sein. Es herrschte Konsens darüber, dass die Persönlichkeit in erster Linie vom Milieu bestimmt wurde, jedes Kind eine leere Tafel war, auf die zu schreiben sei. Meine medizinische Geschichte war nur eine Widerspiegelung dessen, was in jener Zeit psychologisch jedem widerfuhr. Frauen wurden mehr wie Männer, und Männer wurden mehr wie Frauen. In den siebziger Jahren hatte es eine Weile den Anschein, als ginge es mit dem sexuellen Unterschied zu Ende. Aber dann ereignete sich noch etwas.
Es nannte sich Evolutionsbiologie. Unter ihrem Einfluss wurden die Geschlechter wieder getrennt, Männer wurden zu Jägern, Frauen zu Sammlerinnen. Nicht mehr das Erworbene, sondern das Angeborene prägte uns. Es hieß, die Impulse von Hominiden aus der Zeit um 2000 v. Chr. wirkten in uns noch immer nach. Und so liefern uns heute Fernsehen und Zeitschriften die gängigen Vereinfachungen. Warum können Männer nicht kommunizieren? (Weil sie auf der Jagd leise sein mussten.) Warum kommunizieren Frauen so gut? (Weil sie einander zurufen mussten, wo die Früchte und Beeren waren.) Warum finden Männer nie etwas im Haus? (Weil sie ein schmales Blickfeld haben, was ihnen bei der Pirsch auf Wild zugute kommt.) Warum finden Frauen alles so schnell? (Weil sie beim Bewachen des Nests ein weites Feld zu überblicken pflegten.) Warum können Frauen nicht rückwärts einparken? (Weil ein niedriger Testosteronspiegel das räumliche Denken behindert.) Warum fragen Männer nicht nach dem Weg? (Weil die Frage nach dem Weg ein Zeichen von Schwäche ist und Jäger nie Schwäche zeigen.) Auf diesem Stand sind wir heute. Männer und Frauen haben keine Lust mehr, gleich zu sein, sie wollen sich wieder unterscheiden.
Daher überrascht es auch nicht, dass Dr. Luce' Theorie in den neunziger Jahren unter Beschuss geriet. Das Kind war nicht mehr eine leere Tafel; jedem Neugeborenen hatten Genetik und Evolution schon etwas draufgeschrieben. Im Zentrum dieser Debatte steht mein Leben. In gewisser Weise bin ich für sie die Lösung. Nach meinem Verschwinden war Luce anfangs verzweifelt, weil er glaubte, seinen größten Fund verloren zu haben. Dann aber dämmerte ihm wohl, warum ich weggelaufen war, und er kam zu dem Schluss, dass ich seine Theorie nicht bewies, sondern entkräftete. Er hoffte, ich würde den Mund halten. Er veröffentlichte seine Artikel über mich und betete, ich würde nie wieder auftauchen, um sie zu widerlegen.
Aber so einfach ist das nicht. Ich passe in keine dieser Theorien. Weder in die der Evolutionsbiologen noch in die von Luce. Auch dem von der Intersex-Bewegung verbreiteten Essentialismus entspricht meine Psyche nicht. Anders als so genannte männliche Pseudohermaphroditen, über die in der Presse geschrieben worden ist, bin ich als
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