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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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wüssten sie ja nichts Genaues. Doch solche Stimmungen währten nur für kurze Zeit. Wenn sie allein war, versuchte Tessie zu erspüren, ob etwas über die Nabelschnur zu ihr drang, doch da war nichts, nicht einmal ein Notsignal.
    Mittlerweile war ich vier Monate vermisst. Es war Januar 1975. Mein fünfzehnter Geburtstag war verstrichen, ohne dass man mich gefunden hatte. An einem Sonntagvormittag, Tessie war in der Kirche und betete um meine Rückkehr, klingelte das Telefon. Milton nahm ab.
    »Hallo?«
    Erst kam keine Antwort. Milton hörte im Hintergrund Musik, ein Radio vielleicht, das in einem anderen Raum lief. Dann sprach eine gedämpfte Stimme.
    »Bestimmt vermisst du deine Tochter, Milton.«
    »Wer sind Sie?«
    »Eine Tochter ist etwas ganz Besonderes.«
    »Wer sind Sie?«, drängte Milton erneut, dann war die Leitung tot.
    Er sagte Tessie nichts von dem Anruf. Er vermutete, es war ein Spinner. Oder ein vergrätzter Angestellter. 1975 war eine Rezession, und Milton hatte einige Filialen schließen müssen. Aber am Sonntag darauf läutete das Telefon erneut. Diesmal nahm Milton beim ersten Klingeln ab.
    »Hallo?«
    »Guten Morgen, Milton. Ich habe heute Vormittag eine Frage an dich. Möchtest du die Frage hören, Milton?«
    »Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich lege auf.«
    »Das bezweifle ich, Milton. Ich bin deine einzige Chance, dass du deine Tochter wiederbekommst.«
    Daraufhin machte Milton etwas Charakteristisches. Er schluckte, straffte die Schultern und wappnete sich mit einem kleinen Nicken gegen alles, was da kommen mochte.
    »In Ordnung«, sagte er, »ich höre.« Da legte der Anrufer auf.
    »Im alten Griechenland gab es einmal einen verwunschenen Teich...« Inzwischen konnte ich es im Schlaf. Und in Anbetracht unserer Festivitäten am Beckenrand, dem strömenden Averna, dem beruhigenden Hasch, schlief ich tatsächlich. Halloween war längst vorüber. Auch Thanksgiving, dann Weihnachten. An Silvester gab Bob Presto eine große Party. Zora und ich tranken Champagner. Als es Zeit für meinen Auftritt war, sprang ich ins Becken. Ich war benebelt und betrunken, daher tat ich an dem Abend etwas, was ich normalerweise nie tat. Ich öffnete unter Wasser die Augen. Ich sah die Gesichter, die mich betrachteten, und ich sah, dass sie nicht angewidert waren. An jenem Abend machte es mir in dem Becken Spaß. In gewisser Hinsicht tat mir das alles gut. Es war therapeutisch. In Hermaphroditos wogten alte Spannungen, versuchten sich zu lockern. Traumata aus dem Umkleideraum lösten sich. Die Scham, einen Körper zu haben, der anders als andere war, verging. Das Gefühl, ein Monstrum zu sein, verblasste. Und mit der Scham und dem Selbsthass heilte auch ein anderer Schmerz. Ganz allmählich vergaß Hermaphroditos das obskure Objekt.
    In meinen letzten Wochen in San Francisco las ich alles, was Zora mir gab; ich wollte mich bilden. Ich lernte, in welchen Varianten es uns Hermaphroditen gab. Ich las über Hyperkortizismus und feminisierende Hoden und etwas, was auf mich zutraf, Kryptorchismus. Ich las über das Klinefelter- Syndrom, bei dem ein zusätzliches X-Chromosom den Menschen groß und eunuchoid werden lässt und ihm ein unangenehmes Wesen verleiht. Weniger das Medizinische kwoluaatmwols der Sambia in Papua-Neuguinea und die guevedoche in der Dominikanischen Republik. Karl Heinrich Ulrichs, der 1860 in Deutschland schrieb, sprach vom »dritten Geschlecht«. Er bezeichnete sich als Uranisten und glaubte, er habe eine weibliche Seele in einem männlichen Körper. Viele Kulturen der Welt operierten nicht mit zwei, sondern mit drei Geschlechtern. Und das dritte war immer besonders, exaltiert, mit mystischen Gaben ausgestattet.
    An einem kalten, nieseligen Abend versuchte ich es. Zora war ausgegangen. Es war Sonntag, und wir hatten frei. Ich hockte in einem halben Lotussitz auf dem Fußboden und schloss die Augen. Konzentriert, ja andächtig wartete ich darauf, dass meine Seele meinen Körper verließ. Ich versuchte, mich in einen Trancezustand zu versetzen oder ein Tier zu werden. Ich tat mein Bestes, aber nichts geschah. Offenbar hatte ich keine besonderen Kräfte. Ich war eben doch kein Teiresias.
    Das alles führt mich zu einem Freitag Ende Januar. Es war nach Mitternacht. Carmen war im Bassin und gab ihre Esther Williams. Zora und ich waren in der Garderobe und wahrten die Tradition (Thermosflasche, Cannabis). In ihrem Meerjung frauenkostüm war Z. nicht sonderlich beweglich und lag als Fisch-Odaliske

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