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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Manuskript verderblich. Man musste vorsichtig damit sein. Ich musste mich an den Küchentisch setzen, dann brachte Zora es heraus wie eine Bibliothekarin einen Shakespeare-Folianten. Sonst behandelte Zora mich nicht wie ein Kind. Sie ließ mir meinen Zeitrhythmus. Sie bat mich, etwas zur Miete beizusteuern. Tagsüber schlumpften wir meistens in unseren Kimonos im Haus herum. Z. machte beim Arbeiten ein ernstes Gesicht. Ich saß auf der Terrasse und las Bücher aus ihren Regalen, Kate Chopin, Jane Bowles und Gedichte von Gary Snyder. Obwohl wir uns in nichts ähnelten, betonte Zora stets unsere Solidarität. Wir waren gegen dieselben Vorurteile und Missverständnisse. Das machte mich froh, aber Zora gegenüber fühlte ich mich nie wie eine Schwester. Nicht völlig. Denn immer war mir ihre Figur unter dem Gewand bewusst. Ich wandte den Blick ab und versuchte, sie nicht anzustarren. Auf der Straße hielten mich die Leute für einen Jungen. Nach Zora drehten sie sich um. Männer pfiffen ihr hinterher. Doch sie mochte Männer nicht. Nur lesbische Frauen.
    Sie hatte auch ihre düsteren Seiten. Sie trank viel und war zuweilen unausstehlich. Sie schimpfte auf Football, Männer kumpeleien, Babys, Brutkästen, Politiker und Männer über haupt. Dann wütete in Zora eine Gewalt, die mich nervös machte. Sie war die Highschool-Schönheit gewesen. Sie hatte sich Zärtlichkeiten ausgesetzt, die ihr nichts bedeutet hatten, und schmerzhaftem Geschlechtsverkehr. Wie viele Schön heiten hatte Zora die übelsten Kerle angezogen. Die Unideppen. Die Anführer der Herpesfraktion. Es verwunderte daher nicht, dass sie von Männern keine hohe Meinung hatte. Mich nahm sie davon aus. Mich fand sie ganz in Ordnung. Sah in mir alles andere als einen richtigen Mann. Womit sie, wie ich glaubte, auch völlig richtig lag.
    Die Eltern des Hermaphroditos waren Hermes und Aphrodite. Ovid berichtet uns nicht, wie ihnen zumute war, als ihr Kind verschwand. Meine Eltern jedenfalls hielten sich ständig in der Nähe des Telefons auf und verließen nie gemeinsam das Haus. Inzwischen aber hatten sie Angst, den Hörer abzunehmen, da sie sich vor einer schlechten Nachricht fürchteten. Unkenntnis schien besser als Leid. Wenn das Telefon klingelte, zögerten sie, bevor sie dran gingen. Sie ließen es immer erst drei- oder viermal klingeln.
    In ihrem Schmerz war Harmonie. Während der Monate, in denen ich vermisst war, hatten Milton und Tessie dieselben Panikstiche, dieselben wahnhaften Hoffnungen, dieselbe Schlaflosigkeit. Es war Jahre her, seit ihr Gefühlsleben so übereingestimmt hatte, und das führte dazu, dass die Zeit ihrer jungen Liebe wiederkam.
    Sie schliefen nun mit einer Häufigkeit miteinander, die sie lange Jahre nicht mehr erlebt hatten. Wenn Pleitegeier das Haus verlassen hatte, gingen sie erst gar nicht nach oben, sondern blieben in dem Zimmer, in dem sie gerade waren. Sie testeten das rote Ledersofa im Arbeitszimmer, sie ließen sich auf die Blaumeisen und roten Beeren des Wohnzimmersofas nieder, und ein paar Mal legten sie sich sogar auf die strapazierfähige Auslegeware mit dem Kachelmuster in der Küche. Der einzige Ort, den sie mieden, war der Keller, weil es dort kein Telefon gab. Ihr Liebesspiel war nicht leidenschaftlich, sondern bedächtig und elegisch, gehorchte den gebieterischen Rhythmen ihres Leids. Sie waren nicht mehr jung, ihre Körper nicht mehr schön. Tessie weinte danach manchmal. Milton hielt die Augen zugekniffen. Ihre Anstrengungen erbrachten kein Erblühen von Empfindungen, auch keine Erlösung, allenfalls selten.
    Dann, eines Tages, ein Vierteljahr nach meinem Verschwin den, brachen die Signale, die meine Mutter über die spirituelle Nabelschnur empfangen hatte, ab. Tessie lag gerade im Bett, als das leise Schnurren oder Kribbeln in ihrem Nabel aufhörte. Sie setzte sich auf. Sie legte die Hand auf ihren Bauch.
    »Ich spüre sie nicht mehr!«, schrie Tessie.
    »Was?«
    »Die Schnur ist durchtrennt! Jemand hat die Schnur durch trennt!«
    Milton versuchte, Tessie gut zuzureden, doch es war zwecklos. Von dem Augenblick an war meine Mutter überzeugt, dass etwas Schreckliches mit mir geschehen war.
    Und so kam es: In die Harmonie ihres Leidens trat ein Missklang. Während Milton darum kämpfte, zuversichtlich zu bleiben, gab sich Tessie zunehmend der Verzweiflung hin. Sie begannen zu streiten. Immer mal wieder riss Miltons Optimismus meine Mutter mit, dann war sie ein, zwei Tage heiter. Dann sagte sie sich, schließlich

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