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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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schrie. Und verstummte. Kein einziger Mund gab einen Laut von sich, als deutlich geworden war, dass ihr eigenes Land sie im Stich gelassen hatte, dass Smyrna nun keine Regierung mehr besaß, dass nichts mehr zwischen ihnen und den vorrückenden Türken war.
    (Und habe ich erwähnt, dass Smyrnas Straßen im Sommer von Körben voller Rosenblätter gesäumt waren? Und dass jeder in der Stadt Französisch, Italienisch, Griechisch, Türkisch, Englisch und Niederländisch sprechen konnte? Und habe ich Ihnen von den berühmten Feigen erzählt, die, von einer Kamelkarawane gebracht, auf die Erde gekippt wurden, riesige Berge matschiger Früchte im Dreck, und dreckige Frauen sie in Salzwasser tauchten und Kinder sich hinter die Haufen hockten, um zu defäkieren? Habe ich erwähnt, dass der Gestank dieser Feigenfrauen sich mit angenehmeren Gerüchen von Mandelbäumen, Mimosen, Lorbeer und Pfirsichen mischte und dass an Karneval jeder eine Maske trug und auf Decks von Fregatten aufs Erlesenste dinierte? Diese Dinge möchte ich erwähnen, weil alles in dieser Stadt geschah, die eigentlich kein richtiger Ort war, die zu keinem Land gehörte, weil sie alle Länder in sich barg und weil Sie, wenn Sie heute dorthin fahren, moderne Hochhäuser sehen, amnesische Boulevards, wimmelnde Ausbeutungsbetriebe, ein Nato-Hauptquartier und ein Schild, auf dem Izmir steht...)
    Fünf Autos, mit Olivenzweigen geschmückt, brechen durch die Stadttore. Kavalleriegalopp Stoßstange an Stoßstange. Die Autos donnern am überdachten Basar vorbei, durch jubelnde Massen im türkischen Viertel, wo von jeder Straßenlampe, jeder Tür, jedem Fenster rotes Tuch weht. Nach osmanischem Gesetz müssen die Türken in einer Stadt immer die höchste Stelle innehaben, also ist der Konvoi nun weit oberhalb der Stadt, fährt bergab. Bald durchqueren die fünf Autos die menschenleeren Teile, in denen Häuser aufgegeben worden sind oder Familien sich versteckt halten. Anita Philobosian späht hinaus zu den herannahenden schönen, mit Laub bedeckten Fahrzeugen, deren Anblick sie so fesselt, dass sie schon die Fensterläden entriegelt, bis ihre Mutter sie wegzieht... und auch andere Gesichter sind an die Holzstreben gedrückt, armenische, bulgarische, griechische Augen spähen aus Verstecken und Mansarden, um einen Blick auf den Eroberer zu erhaschen und seine Absichten zu erahnen, doch die Autos fahren zu schnell, und das Sonnenlicht auf den erhobenen Säbeln der Kavallerie blendet, und dann sind die Autos auch schon verschwunden, treffen ein am Kai, wo Pferde in die Menge stürmen und Flüchtlinge schreien und auseinander stieben.
    Auf dem Rücksitz des letzten Autos sitzt Mustafa Kemal. Der Kampf hat ihn schlank werden lassen. Seine blauen Augen blitzen. Seit über zwei Wochen hat er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. (Die »Divertikulitis« des Pascha, die Dr. Philobosian behandelt hat, war nur ein Vorwand. Kemal, Freund der westlichen Zivilisation und Verfechter des säkularen türkischen Staates, blieb diesen Prinzipien bis ans Ende treu, als er mit siebenundfünfzig an Leberzirrhose starb.)
    Als er vorbeifährt, blickt er in die Menge, in der eine junge Frau sich von einem Koffer erhebt. Blaue Augen durchdringen braune. Zwei Sekunden. Nicht einmal zwei. Dann wendet Kemal den Blick ab; der Konvoi ist fort.
    Und nun ist alles eine Sache des Windes. Ein Uhr morgens, Mittwoch, 13. September 1922. Lefty und Desdemona sind jetzt sieben Tage in der Stadt. Es riecht nicht mehr nach Jasmin, sondern nach Kerosin. Um das armenische Viertel sind Barrikaden errichtet. Türkische Truppen versperren die Ausgänge vom Kai. Aber der Wind weht weiterhin in die falsche Richtung. Gegen Mitternacht dreht er jedoch. Plötzlich weht er nach Südwesten, das heißt, weg von den türkischen Höhen und zum Hafen hin.
    Im Dunkeln versammeln sich Fackeln. Drei türkische Soldaten stehen in einer Schneiderei. Ihre Fackeln erleuchten Stoffballen und Anzüge auf Bügeln. Dann wird das Licht heller, und man sieht den Schneider selbst. Er sitzt an seiner Nähmaschine, den rechten Schuh noch auf dem Fußpedal. Das Licht wird noch heller, es enthüllt sein Gesicht, die klaffenden Augenhöhlen, den Bart, der in blutigen Stücken herausgerissen ist.
    Im ganzen armenischen Viertel erblühen Feuer. Wie Millionen Glühwürmchen fliegen Funken durch die dunkle Stadt, besamen jede Stelle, an der sie landen, mit einem Feuerkeim. An seinem Haus in der Suyane-Straße hängt Dr. Philobosian einen nassen

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