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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Teppich über den Balkon, eilt dann in das finstere Haus zurück und schließt die Fensterläden. Aber der Schein dringt in das Zimmer, erhellt es in Streifen: Toukhies Augen voller Angst, Anitas Stirn, die wie die von Clara Bow in Photoplay mit einem Silberband umwickelt ist, Roses nackter Hals, Stepans und Karekins dunkle, gesenkte Köpfe.
    Im Feuerschein liest Dr. Philobosian in jener Nacht zum fünften Mal »›... der Wertschätzung, dem Vertrauen und Schutz... mit allem Respekt empfohlen...‹ Hört ihr das? Dem ›Schutz‹ ... «
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite singt Frau Bidzikian die drei vom Höhepunkt der Arie »Königin der Nacht«
    aus der Zauberflöte hinlänglich bekannten Noten. Inmitten der anderen Geräusche - Türen, die eingeschlagen werden, schreiende Menschen, weinende Mädchen - klingt die Musik so eigenartig, dass sie alle aufblicken. Frau Bidzikian wiederholt das B, das D und das F noch zweimal, als probe sie die Arie, dann schlägt ihre Stimme einen Ton an, den sie alle noch nie zuvor gehört haben, und da erkennen sie, dass Frau Bidzikian gar keine Arie gesungen hat.
    »Rose, hol mir meine Tasche.«
    »Nishan, nein«, wendet seine Frau ein. »Wenn sie dich rauskommen sehen, wissen sie, dass wir uns hier verstecken.«
    »Mich sieht keiner.«
    Die Flammen nahm Desdemona anfangs als Lichter auf den Schiffsrümpfen wahr. Orange Pinselstriche flackerten oberhalb der Wasserlinie der USS Litchfield und des französischen Dampfers Pierre Loti. Dann leuchtete das Wasser auf, als wäre ein Schwarm phosphoreszierender Fische in den Hafen geschwommen.
    Leftys Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Sie wollte wissen, ob er schlief. »Lefty. Lefty?« Als er nicht reagierte, küsste sie ihn auf den Kopf. Dann gingen die Sirenen los.
    Sie sieht nicht ein Feuer, sondern viele. Auf dem Hügel über ihr sind zwanzig orange Pünktchen. Und diese Feuer sind von einer widernatürlichen Hartnäckigkeit. Sobald die Feuerwehr einen Brand löscht, lodert anderswo ein anderer auf. Sie brechen in Heuwagen und Abfalleimern aus, sie folgen Kerosinfährten auf der Straßenmitte, sie biegen um Ecken, sie gehen durch eingetretene Türen. Ein Feuer dringt in Berberians Bäckerei, macht mit den Brotregalen und Kuchenwagen kurzen Prozess. Es frisst sich in den Wohntrakt durch, erklimmt die vordere Treppe, wo es auf halbem Weg auf Charles Berberian stößt, der versucht, es mit einer Decke zu ersticken. Doch das Feuer duckt sich an ihm vorbei und rast ins Haus hinauf. Dort stürmt es über einen Orientteppich, marschiert auf die hintere Veranda ins Freie, springt flink auf eine Wäscheleine und tanzt auf diesem Hochseil zum Haus dahinter. Es steigt durchs Fenster ein und hält inne, als könne es sein Glück nicht fassen: denn auch in diesem Haus ist alles wie zum Brennen geschaffen - das Damastsofa mit seinen langen Fransen, die Beistelltische aus Mahagoni und die Lampenschirme aus Chintz. Die Hitze zieht die Tapeten bahnenweise ab, und das geschieht nicht nur in dieser Wohnung, sondern in zehn, fünfzehn weiteren, dann zwanzig, fünfundzwanzig, und jedes Haus setzt seinen Nachbarn in Brand, bis ganze Häuserblocks brennen. Über die Stadt weht der Geruch von brennenden Gegenständen, die eigentlich nicht brennen sollten: Schuhcreme, Rattengift, Zahnpasta, Klaviersaiten, Bruchbän der, Kinderbettchen, Gymnastikkeulen. Und Haut und Haaren. Ja, inzwischen auch Haut und Haaren. Am Kai stehen Lefty und Desdemona zusammen mit allen anderen auf, mit Leuten, die zu überwältigt sind, um darauf zu reagieren, oder noch im Halbschlaf oder von Typhus und Cholera geschwächt oder zu erschöpft sind, um sich noch um etwas zu sorgen. Und auf einmal bilden alle Brände auf dem Hügel eine große Feuerwand, die über die ganze Stadt reicht und - das ist jetzt unausweichlich - sich auf den Weg zu ihnen macht.
    (Und da erinnere ich mich an etwas anderes: Mein Vater, Mil ton Stephanides, bückt sich, in Bademantel und Pantoffeln, am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags, um ein Feuer zu entfachen. Nur einmal im Jahr entkräftete die Notwendigkeit, einen Berg Geschenkpapier und Pappverpackungen zu beseitigen, Desdemonas Einwände gegen die Nutzung unseres Kamins. »Ma«, warnte Milton sie dann, »ich verbrenne jetzt etwas von diesem Müll.« Worauf Desdemona »Mana!« ausrief und nach ihrem Gehstock griff. Vor dem Kamin zog mein Vater aus einer sechseckigen Schachtel ein langes Streichholz. Doch da hatte sich Desdemona schon in Bewegung

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