Middlesex
so einige Sachen in ihrem Leben, von denen ihr Mann lieber nichts erfahren sollte.«
»Du meinst Helen?«
»Ich hab nichts gesagt«, sagte Lefty.
Danach schliefen sie ein, und als sie in der Morgensonne erwachten, sah ein Gesicht zu ihnen herab.
»Haben Sie gut geschlafen?«, sagte Kapitän Kontoulis. »Soll ich Ihnen vielleicht eine Decke holen?«
»Es tut mir Leid«, sagte Lefty. »Wird nicht wieder vorkommen.«
»Das kann es auch gar nicht«, sagte der Kapitän, und wie um das Gesagte zu unterstreichen, zog er die Persenning des Rettungsbootes ganz zurück. Desdemona und Lefty setzten sich auf. In der Ferne, von der aufgehenden Sonne beschienen, war die Skyline von New York. Sie entsprach nicht ihren Vorstellungen von einer Stadt - keine Kuppeln, keine Minarette -, und es dauerte eine Weile, bis sie die hohen geometrischen Formen verarbeitet hatten. Nebel wallte aus der Bucht. Millionen rosa Fensterscheiben gleißten. Näher, von ihren eigenen Sonnenstrahlen gekrönt und wie eine antike Griechin gekleidet, hieß die Freiheitsstatue sie willkommen.
»Wie finden Sie das?«, fragte Kapitän Kontoulis.
»Ich habe für den Rest meines Lebens genug Fackeln gesehen«, sagte Lefty.
Ausnahmsweise war Desdemona einmal die Optimistischere.
»Wenigstens ist es eine Frau«, sagte sie. »Vielleicht bringen sich die Leute hier ja nicht jeden Tag gegenseitig um.«
ZWEITES BUCH
HENRY FORDS ENGLISCH SPRACHIGER SCHMELZTIEGEL
Jeder, der eine Fabrik baut, baut einen Tempel.
Calvin Coolidge
Detroit war schon immer eine Stadt des Rades. Lange vor den Großen Drei - General Motors, Chrysler und Ford - sowie dem Spitznamen »Motor City«, lange vor den Autofabriken und den Frachtern und den rosaroten Chemienächten, ja noch bevor jemand in einem Thunderbird geknutscht oder in einem Modell T geschmust hatte, auch vor dem Tag, an dem ein junger Henry Ford eine Werkstattwand niederriss, weil er bei der Konstruktion seines »quadricycle« an alles gedacht hatte, nur nicht daran, wie er das Mistding rauskriegen sollte, und beinahe ein Jahrhundert vor der kalten Märznacht 1896, als Charles King seine pferdelose Kutsche die Woodward Avenue mit der Ruderpinne entlangsteuerte (wo der zweizylindrige Motor prompt den Geist aufgab), vor langer, langer Zeit, als die Stadt nichts als ein Stück gestohlenes Indianerland war, das an der Wasserstraße lag, von der sie ihren Namen hatte, ein von den Briten und Franzosen umkämpftes Fort, bis es, nachdem sie zermürbt waren, den Amerikanern in die Hände fiel - vor langer Zeit also, noch vor den Autos und den Kleeblättern, war Detroit eine Stadt des Rades.
Ich bin neun Jahre alt und halte die fleischige, verschwitzte Hand meines Vaters. Wir stehen an einem Fenster im obersten Stock des Hotels Pontchartrain. Ich bin zu unserem alljährlichen Mittagessen in die Stadt gekommen. Ich trage einen Minirock und fuchsienrote Strumpfhosen. Über meiner Schulter hängt an einem langen Riemen eine weiße Lederhandtasche.
Das beschlagene Fenster ist fleckig. Wir sind ganz weit oben. Gleich bestelle ich Scampi mit Shrimps.
Warum mein Vater an der Hand schwitzt: Er hat Höhenangst. Zwei Tage zuvor, als er sagte, ich könne mir aussuchen, wo wir hingehen würden, rief ich mit meiner Piepsstimme: »Ganz oben ins Pontch!« Hoch über der Stadt, unter Geschäftsessenden und Powerbrokern, da wollte ich sein. Und Milton hat sein Versprechen gehalten. Trotz seines rasenden Pulses hat er dem Oberkellner gestattet, uns einen Tisch am Fenster zuzuweisen; wo wir jetzt sind - ein befrackter Kellner zieht gerade meinen Stuhl heraus -, und mein Vater, der sich vor lauter Angst nicht hinsetzt, bricht stattdessen eine Geschichtsstunde vom Zaun.
Warum sich für Geschichte interessieren? Um die Gegenwart zu verstehen oder sie zu meiden? Milton, der olivfarbene Teint einen Hauch blasser, sagt nur: »Schau mal. Siehst du das Rad?«
Und nun kneife ich die Augen zusammen. Mit neun der Aussicht, Krähenfüße zu bekommen, keine Beachtung schenkend, blicke ich über die Innenstadt, hinab auf die Straßen, auf die mein Vater zeigt (wenn auch nicht schaut). Und da ist sie: die Radkappenhälfte Cityplaza, dazu die Straßenspeichen Bagley, Washington, Woodward, Broadway und Madison, die strahlenförmig davon abgehen.
Mehr ist von dem berühmten Woodward-Plan nicht übrig geblieben. 1807 am Reißbrett entworfen von dem kräftig trinkenden Richter dieses Namens. (Zwei Jahre davor, 1805, war die Stadt bis auf die
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