Middlesex
aus wie eine Amerikanida.«
»Ich will aber nicht wie eine Amerikanida aussehen.«
Im Bewilligungsbereich auf Ellis Island hatte Lefty Desdemona beschwatzt, in ein Zelt der YWCA zu gehen. Mit Schal und Kopftuch war sie hineingegangen und eine Viertelstunde später in einem Kleid mit tiefer Taille und einem Schlapphut in der Form einer Nachttopfs wieder herausgekommen. Unter ihrem neuen Gesichtspuder loderte Zorn. Im Zuge der Schönheitskur hatten die Damen von der YWCA Desdemona die Einwandererzöpfe abgeschnitten.
Zwanghaft wie jemand, der tief in der Tasche an einem Loch herumknibbelt, fuhr sie sich nun zum dreißigsten oder vierzigsten Mal unter den Schlapphut, um ihre beraubte Kopfhaut zu befühlen. »Das war der letzte Haarschnitt«, sagte sie noch einmal. (Sie hielt diesen Schwur. Von jenem Tag an ließ Desdemona sich das Haar wie Lady Godiva wachsen, barg die gewaltige Masse in einem Netz und wusch sie jeden Freitag; erst nach Leftys Tod ließ sie es wieder schneiden und gab es Sophie Sassoon, die es für zweihundertfünfzig Dollar einem Perückenmacher verkaufte. Der machte fünf Perücken daraus, von denen eine, wie sie behauptete, später von Betty Ford erworben wurde, nach ihrer Zeit im Weißen Haus und der Rehabilitierung, sodass wir es einmal im Fernsehen sehen konnten, bei der Beerdigung Richard Nixons, das Haar meiner Großmutter, wie es auf dem Kopf der Frau des ehemaligen Präsidenten saß.)
Doch es gab noch einen anderen Grund für die Niedergeschlagenheit meiner Großmutter. Sie öffnete die Seidenraupenkiste auf ihrem Schoß. Darin lagen ihre beiden Zöpfe, noch immer mit den Trauerbändern zusammenge bunden, aber ansonsten war sie leer. Nachdem sie ihre Seidenraupeneier den ganzen Weg von Bithynios mit sich getragen hatte, war Desdemona auf Ellis Island gezwungen worden, sie wegzuwerfen. Seidenraupeneier standen auf einer Parasitenliste.
Lefty klebte weiter am Fenster. Ab Hoboken hatte er wunderbare Dinge gesehen: elektrische Straßenbahnen, die rosige Gesichter die Hügel von Albany hinaufbrachten, Fabriken, die in der Nacht über Buffalo wie Vulkane gleißten. Einmal, als der Zug in der Morgendämmerung durch eine Stadt fuhr, hatte er ein Geldinstitut mit Säulenportikus für den Parthenon gehalten und geglaubt, er sei wieder in Athen.
Und nun jagte der Detroit River vorbei, und die Stadt baute sich auf. Lefty starrte auf die Motorwagen, die wie riesige Käfer am Straßenrand geparkt waren. Überall ragten Schornsteine empor, Kanonen, die in die Atmosphäre schossen. Es gab rote aus Backstein und hohe silberne, Schornsteine, die in Regimentsreihen oder ganz für sich vor sich hin pafften, ein Wald aus Schornsteinen, die das Sonnenlicht verdüsterten und es dann, jäh, völlig aussperrten. Alles wurde schwarz: Sie waren in den Bahnhof eingefahren.
Die Grand Trunk Station, heute eine Ruine von spektakulären Ausmaßen, war damals der Versuch der Stadt, New York den Rang abzulaufen. Ihr Fundament war ein gewaltiges neoklassizistisches Marmormuseum, korinthische Säulen und gemeißeltes Gebälk. Aus diesem Tempel erhob sich ein dreizehnstöckiges Bürogebäude. Lefty, der genau beobachtet hatte, wie Griechenland nach Amerika weitergereicht worden war, kam nun am Endpunkt dieser Übermittlung an. Mit anderen Worten: in der Zukunft. Er trat ins Freie, um sie zu begrüßen. Desdemona, der keine Wahl blieb, folgte ihm.
Man stelle sich den Bahnhof in jener Zeit nur einmal vor! Die Grand Trunk! In hundert Speditionsbüros klingeln Telefone, noch immer ein relativ ungewohnter Laut, Güter werden nach Ost und West verschickt, Passagiere kommen an und fahren ab, trinken im Palm Court einen Kaffee oder lassen sich die Schuhe putzen, die Flügelkappenschuhe des Bankwesens, die Schuhe mit gerader Kappe des Teilelagers, die Sattelschuhe des Rumschmuggels. Die Grand Trunk mit ihrem Deckenge wölbe aus Gustavino-Kacheln, den Kronleuchtern, dem Fußboden aus walisischem Bruchstein. Es gab einen Friseursalon mit sechs Stühlen, auf denen Bürgervertreter, in heißen Handtüchern eingemummt, saßen, Mietbadewannen und Fahrstuhlfronten, die von durchscheinenden, eiförmigen Marmorleuchten erhellt waren.
Lefty ließ Desdemona hinter einer Säule zurück und machte sich auf die Suche nach der Cousine, die sie vom Zug abholen sollte. Sourmelina Zizmo, geborene Papadiamandopoulos, war die Cousine meiner Großeltern und daher meine Großcousine. Ich kannte sie als lebhafte, ältere Frau. Sourmelina und ihre
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