Middlesex
Grundmauern niedergebrannt, waren die Holzhäuser und die am Fluss aufgereihten Fabriken und Werkstätten der 1701 von Cadillac gegründeten Siedlung innerhalb von drei Stunden verkohlt. Noch 1969 kann ich mit meinen scharfen Augen die Spuren jenes Brandes sehen; auf der Stadtfahne, einen knappen Kilometer entfernt im Grand Circus Park, lese ich: Speramus meliora; resurget cineribus.
»Wir hoffen auf Besseres; es wird sich aus der Asche erheben.«)
Richter Woodward stellte sich das neue Detroit als ein urbanes Arkadien aus ineinander greifenden Sechsecken vor. Jedes Rad sollte für sich und dennoch vereint sein, entsprechend dem Föderalismus der jungen Nation, aber auch klassisch symmetrisch, ganz im Sinne der Jefferson'schen Ästhetik. Dieser Traum wurde nie richtig wahr. Städteplanung ist etwas für die großen Städte der Welt, für Paris, London und Rom, die, bis zu einem gewissen Punkt, Kulturstädte sind. Detroit dagegen war eine amerikanische Stadt des Geldes, weshalb sich der ästhetische Entwurf der Zweckmäßigkeit unterordnen musste. Seit 1818 hatte sich die Stadt Lager um Lager, Fabrik um Fabrik am Fluss entlang ausgebreitet. Richter Woodwards Räder waren zerquetscht, zerschnitten, in die üblichen Rechtecke gepresst.
Oder anders gesehen (von einem Dachrestaurant aus): Die Räder waren nicht verschwunden, sie hatten nur die Form verändert. Um 1900 war Detroit führend in der Herstellung von Kutschen und Wagen. 1922, als meine Großeltern eintrafen, entstanden in Detroit auch andere rotierende Dinge: Schiffsmotoren, Fahrräder, handgerollte Zigarren. Ja, und am Ende: Autos.
Das alles war von der Bahn aus zu sehen. Am Ufer des Detroit River näher kommend, beobachteten Lefty und Desdemona, wie ihre neue Heimat Gestalt annahm. Sie sahen, wie Farmland eingezäunten Grundstücken und Kopfstein straßen wich. Der Himmel verdunkelte sich mit Rauch. Gebäude flogen vorbei, Backsteinlagerhäuser, mit pragmatisch weißen Bookman-Lettern bemalt: WRIGHT AND KAY CO.... J.H. BLACK & SONS... DETROIT STOVE WORKS. Auf dem Wasser zogen gedrungene, teerfarbene Lastkähne dahin, und auf den Straßen tauchten Menschen auf, Arbeiter in schmutzigen Overalls, Büroangestellte, die Daumen hinter Hosenträgern, dann Schilder von Esslokalen und Pensionen:
Wir servieren Stroh's alkoholfreies Bier... Machen Sie es sich hier bequem... Essen für 15 Cent...
... Während all das Neue in die Gehirne meiner Großeltern schwappte, rangelten sie noch mit Bildern vom Tag davor. Ellis Island, das wie ein Dogenpalast aus dem Wasser ragte. Der Gepäckraum, bis unter die Decke voll gestapelt. Man hatte sie eine Treppe hinauf zum Registriersaal gescheucht. Mit den Nummern von der Passagierliste der Giulia versehen, waren sie an einer Reihe von Gesundheitsinspektoren vorbeidefiliert, die ihnen in Augen und Ohren geschaut, ihnen über die Kopfhaut gerieben und die Lider mit Stiefelknöpfern nach außen gedreht hatten. Ein Arzt hatte bei Dr. Philobosian eine Entzündung unter den Augenlidern entdeckt, sogleich die Untersuchung beendet und ihm ein X auf den Mantel gemalt. Er wurde aus der Reihe geführt. Meine Großeltern hatten ihn nicht mehr wiedergesehen. »Er muss sich auf dem Schiff was eingefangen haben«, sagte Desdemona. »Oder seine Augen waren von dem vielen Weinen rot.« Unterdessen machte die Kreide um sie herum ihre Arbeit. Auf den Bauch einer Schwangeren malte sie ein Pg. Über das schwache Herz eines alten Mannes kritzelte sie ein H. Sie diagnostizierte das C für Conjunctivitis, das F für Favus und das T für Trachom. Doch wie gut ausgebildet die Ärzte auch sein mochten, eine rezessive Mutation, die sich auf einem fünften Chromosom verbarg, konnten ihre Augen nicht entdecken. Finger konnten sie nicht tasten. Stiefelknöpfer sie nicht ans Licht bringen...
Jetzt, im Zug, waren an meine Großeltern nicht mehr Passagierlistennummern, sondern Zielortkarten geheftet: »An den Schaffner: Bitte zeigen Sie dem Inhaber dieser Karte, wo er um- und aussteigen muss, da diese Person kein Englisch spricht. Der Inhaber reist nach: Grand Trunk Sta. Detroit.« Sie saßen nebeneinander auf nicht reservierten Plätzen, Lefty am Fenster, durch das er aufgeregt schaute. Desdemona blickte auf ihre Seidenraupenkiste hinab, die Wangen glutrot vor Scham und Wut der vergangenen sechsunddreißig Stunden.
»Das war das letzte Mal, dass mir jemand die Haare geschnitten hat«, sagte sie.
»Du siehst gut aus«, sagte Lefty, ohne hinzusehen. »Siehst
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