Middlesex
Wochen schenkten uns eine persönliche Verbindung zu jenem wuchtigen, bedrohlichen, Ehrfurcht gebietenden Komplex, den wir vom Highway aus sahen, jenem kontrollierten Vesuv aus Rutschen, Röhren, Leitern, Laufstegen, Feuer und Rauch, den man, wie eine Plage oder einen Monarchen, nur als Farbe kennt: »das Rouge« .
Am Morgen seines ersten Arbeitstages kam Lefty in die Küche und führte seinen neuen Overall vor. Er breitete die in Flanell gehüllten Arme aus und schnippte mit den Fingern, tanzte in Arbeitsstiefeln, und Desdemona lachte und schloss die Küchentür, damit Lina nicht wach wurde. Lefty aß sein Frühstück aus Backpflaumen und Joghurt, las eine Tage alte griechische Zeitung. Desdemona packte ihm sein griechisches Mittagessen aus Feta, Oliven und Brot in ein neues amerikanisches Behältnis: eine braune Papiertüte. An der Hintertür wollte er sie noch küssen, doch sie wich zurück aus Angst, die Leute könnten es sehen. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja verheiratet waren. Sie lebten in einem Land namens Michigan, wo alle Vögel anscheinend die gleiche Farbe hatten und niemand sie kannte. Desdemona trat wieder vor, den Lippen ihres Mannes entgegen. Ihr erster KUSS in Amerikas freier Natur, auf der hinteren Veranda, bei einem Kirschbaum, der seine Blätter abwarf. Eine kleine Glückskugel barst in ihr und versprühte Funken, bis Lefty vor dem Haus verschwunden war.
Die gute Laune begleitete meinen Großvater den ganzen Weg bis zur Trambahnhaltestelle. Andere Arbeiter warteten schon, in den Knien federnd, Zigaretten rauchend, scherzend. Lefty bemerkte ihre metallenen Lunchdosen und verbarg seine Papiertüte verlegen hinterm Rücken. Die Straßenbahn kündigte sich zunächst als Summen in den Sohlen seiner Stiefel an. Dann erschien sie vor der aufgehenden Sonne, Apollos Streitwagen, wenn auch elektrifiziert. Männer standen darin, je nach Sprache in Gruppen. Für die Arbeit geschrubbte Gesichter hatten noch Ruß in den Ohren, er war kohlschwarz. Die Straßenbahn sauste los. Bald legte sich die ausgelassene Stimmung, und die Sprachen verstummten. Nahe der Innenstadt bestiegen einige Schwarze die Bahn, stellten sich außen auf die Trittbretter, hielten sich am Dach fest. Und dann hob sich das Rouge vom Himmel ab, stieg empor aus dem Rauch, den es erzeugte. Anfangs waren einzig die Spitzen der acht großen Schornsteine zu sehen. Ein jeder schickte seine eigene dunkle Wolke in die Welt. Die Wolken wallten aufwärts und verbanden sich zu einer Glocke, die über der Landschaft hing und einen Schatten warf, der die Trambahngleise begleitete; da begriff Leffy, dass das Schweigen der Männer eine Anerkennung dieses Schattens war, eine Anerkennung dessen, dass er unausweichlich jeden Morgen nahte. Als er nun kam, wandten ihm die Männer den Rücken zu, sodass nur Lefty sah, wie das Licht in dem Maße den Himmel verließ, wie der Schatten die Straßenbahn umhüllte und die Gesichter der Männer ergrauten und einer der mavros auf den Trittbrettern Blut auf die Straße spuckte. Schon sickerte der Geruch in die Straßenbahn, erst die erträglichen Eier und der Dung, dann der unerträgliche chemische Gestank, und Lefty schaute zu den anderen Männern hin, ob die ihn auch spürten, doch sie spürten ihn nicht, obwohl sie weiter atmeten. Die Türen gingen auf, und alle trotteten sie hinaus. Durch den lastenden Rauch sah Lefty weitere Straßenbahnen weitere Männer absetzen, Hunderte und Aberhunderte grauer Gestalten, die über den gepflasterten Hof zu den Fabriktoren stapften. Lastwagen fuhren vorbei, und Lefty ließ sich mit dem Strom der nächsten Schicht mittragen, fünfzig-, sechzig-, siebzigtausend Männer, die gierig an letzten Zigaretten zogen oder rasch noch letzte Worte sagten - denn auf dem Fußweg zur Fabrik hatten sie wieder zu sprechen begonnen, nicht weil sie etwas zu sagen gehabt hätten, sondern weil jenseits der Tore Sprechen nicht gestattet war. Das Hauptgebäude, eine Festung aus dunklem Backstein, war sieben Stockwerke hoch, die Schornsteine hatten eine Höhe von siebzehn. Vom Hauptgebäude gingen zwei von Wassertürmen überragte Rutschen ab. Sie führten zu Überwachungsplattformen, denen sich mit weniger spekta kulären Schornsteinen übersäte Raffinerien anschlössen. Es war wie ein Wäldchen: als hätten die acht Hauptschornsteine des Rouge Samen in den Wind gesät, aus denen nun zehn, zwanzig, fünfzig kleinere Stämme aus der unfruchtbaren Erde der Anlage sprossen. Lefty konnte nun auch
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