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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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dass er nicht sicher ist, ob er sie überhaupt gesehen hat. Und plötzlich gibt es im Packard noch einen anderen Geruch, stärker als Leder und Whiskey, einen strengen, metallischen Geruch, der das Deodorant meines Großvaters besiegt: Angst. Und genau in dem Moment sagt Zizmo mit ruhiger Stimme:
    »Was ich mich immer gefragt habe. Warum erzählst du keinem, dass Lina deine Cousine ist?«
    Die Frage, die wie aus dem Nichts kommt, überrumpelt meinen Großvater. »Wir machen doch gar kein Geheimnis daraus.«
    »Nein?«, sagt Zizmo. »Ich hab dich nie darüber sprechen hören.«
    »Da, wo wir herkommen, sind alle irgendwie verwandt«, versucht Lefty zu witzeln. Dann: »Wie weit müssen wir denn noch?«
    »Bis zur anderen Seite der Fahrrinne. Wir sind immer noch auf der amerikanischen Seite.«
    »Wie willst du sie hier finden?«
    »Wir finden sie schon. Soll ich schneller fahren?« Ohne eine Antwort abzuwarten, gibt Zizmo Gas.
    »Ist schon gut. Mach langsam.«
    »Was ich auch noch wissen wollte«, sagt Zizmo und beschleunigt weiter.
    »Jimmy, pass bitte auf.«
    »Warum musste Lina das Dorf verlassen, um zu heiraten?«
    »Du fährst zu schnell. So kann ich gar nicht aufs Eis achten.«
    »Antworte.«
    »Warum sie fortgegangen ist? Da gab's keinen, den sie heiraten konnte. Sie wollte nach Amerika.«
    »So, wollte sie das?« Er beschleunigt noch immer.
    »Jimmy. Fahr langsamer.«
    Doch Zizmo drückt das Gaspedal durch. Und brüllt: »Ist es deinetwegen!«
    »Wovon sprichst du?«
    »Ist es deinetwegen!« , donnert Zizmo wieder, und der Motor wimmert, das Eis zischt unter dem Auto dahin. »Wer ist es!«, will er wissen. »Sag es! Wer ist es?« ...
    ... Aber bevor mein Großvater darauf antworten kann, kommt eine andere Erinnerung übers Eis geschlittert. Ein Sonntagabend, ich bin noch ein Kind, und mein Vater geht mit mir in den Detroit Yacht Club, einen Film gucken. Wir steigen die Treppe mit dem roten Läufer hinauf, vorbei an silbernen Seglertrophäen und dem Ölgemälde des Renngleitboots Gar Wood. Im ersten Stock betreten wir den Vorführungssaal. Hölzerne Klappstühle sind vor einer Filmleinwand aufgestellt. Die Lampen gehen aus, und der klackernde Projektor schießt einen Lichtstrahl ab, zeigt Millionen Staubkörnchen in der Luft.
    Die einzige Möglichkeit, die meinem Vater einfiel, mir eine Vorstellung von meiner Herkunft zu vermitteln, war, mir italienische Synchronfassungen der alten griechischen Mythen zu zeigen. Und so sahen wir Woche für Woche, wie Herkules den Nemeischen Löwen erschlägt oder den Gürtel der Amazonenkönigin raubt (»Das ist vielleicht ein Gürtel, was, Callie?«) oder einfach so, ohne unterstützenden Text, in Schlangengruben geworfen wird. Aber am liebsten mochten wir den Minotauros...
    ... Auf der Leinwand erscheint ein Schauspieler mit einer schlechten Perücke. »Das ist Theseus«, erklärt Milton. »Seine Freundin hat ihm ein Garnknäuel gegeben, weißt du. Und damit findet er den Weg aus dem Labyrinth hinaus.«
    Schon betritt Theseus das Labyrinth. Seine Fackel erhellt Steinwände aus Pappe. Knochen und Schädel liegen auf seinem Weg. Blutflecken schwärzen den falschen Fels. Ohne die Augen von der Leinwand zu nehmen, strecke ich die Hand aus. Mein Vater greift in die Tasche seines Blazers und zieht ein Karamelbonbon heraus. Als er es mir gibt, flüstert er: »Da kommt der Minotauros!« Und ich erzittere vor Furcht und Freude.
    Damals für mich noch bloße Theorie: das traurige Schicksal dieses Wesens. Asterios, ohne eigene Schuld als Monster geboren. Die giftige Frucht des Betrugs, die aus Scham verborgen gehalten wird; mit acht verstehe ich das alles noch nicht. Ich drücke Theseus die Daumen...
    ... während meine Großmutter sich 1923 darauf vorbereitet, dem Wesen zu begegnen, das in ihrer Gebärmutter verborgen ist. Die Hände unterm Bauch, sitzt sie hinten im Taxi, vorn treibt Lina den Fahrer zur Eile an. Desdemona atmet ein und aus wie eine Läuferin, die sich selbst anfeuert, und Lina sagt: »Ich bin auch gar nicht sauer auf dich, dass du mich geweckt hast. Wollte morgen früh sowieso ins Krankenhaus. Ich darf die Kleine mit nach Hause nehmen.« Aber Desdemona hört gar nicht zu. Sie öffnet ihren vorgepackten Koffer, tastet zwischen Nachthemd und Pantoffeln nach ihren Betperlen. Gelb wie hart gewordener Honig, von Hitze gesprungen, hat es sie Massaker, einen Flüchtlingstreck und eine brennende Stadt überstehen lassen, und sie klackert damit, und das Taxi rumpelt über dunkle

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