Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
die Strafe Gottes sie nun mit aller Härte treffen werde. Doch erneut waren ihre Befürchtungen grundlos. Im folgenden Frühjahr, am 27. April 1928, kam Zoe Stephanides zur Welt, ein großes, gesundes Mädchen mit dem kantigen Kopf ihrer Großmutter, einem mächtigen Schrei und ohne jede Auffälligkeit.
    Milton zeigte wenig Interesse an seiner neuen Schwester. Er zog es vor, im Kreise seiner Freunde mit der Steinschleuder zu schießen. Bei Theodora war es genau umgekehrt. Sie war von Zoe hingerissen. Sie trug das Neugeborene wie eine Puppe mit sich herum. Ihre lebenslange Freundschaft, die viele Spannungen aushalten sollte, begann am Tag eins, dem Tag, als Theodora sich als Zoe's Mutter ausgab.
    Mit der Ankunft eines weiteren Kindes wurde es in dem Haus in der Hurlbut Street etwas eng. Sourmelina beschloss auszuziehen. Sie fand Arbeit in einem Blumenladen und überließ die Hypothek auf dem Haus Lefty und Desdemona. Im Herbst desselben Jahres mieteten sich Sourmelina und Theodora in der nahe gelegenen Pension O'Toole ein, unmittelbar hinter der Hurlbut Street am Cadillac Boulevard. Beide Häuser standen Rücken an Rücken zueinander, sodass Lina und Theodora immer noch nahe genug wohnten, um täglich vorbeizuschauen.
    Am Donnerstag, dem 24. Oktober 1929, sprangen an der Wall Street in New York Männer in elegant geschneiderten Anzügen aus den Fenstern der berühmten Wolkenkratzer. Ihre lemming gleiche Verzweiflung schien sehr fern von der Hurlbut Street, aber ganz allmählich schob sich die dunkle Wolke übers ganze Land, zog in die Richtung, die dem Wetter entgegenlief, bis sie den Mittleren Westen erreichte. Die Depression teilte sich Lefty durch eine größer werdende Zahl leerer Barhocker mit. Nach beinahe sechs ausgelasteten Jahren gab es nun Durststrecken, Abende, an denen der Laden gerade zu zwei Dritteln oder sogar nur zur Hälfte voll war. Die stoischen Alkoholiker immerhin hielt nichts von ihrer Berufung ab. Ungeachtet der internationalen Bankenverschwörung (von Father Coughlin im Radio aufgedeckt) erschienen diese Unentwegten zum Dienst, wann immer der heilige Georg im Fenster galoppierte. Die Geselligkeitstrinker und Familienväter dagegen blieben aus. Im März 1930 machten dann bloß noch halb so viele Gäste das daktylisch-spondäische Klopfzeichen an der Kellertür. Im Sommer zog das Geschäft wieder an. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Lefty zu Desdemona. »Präsident Hoover kriegt das hin. Das Schlimmste haben wir hinter uns.« Sie überstanden die nächsten anderthalb Jahre so einigermaßen, aber 1932 fanden sich kaum noch Gäste ein. Lefty schrieb an, gab seinen Schnaps zu Sonderpreisen ab, doch es half nichts. Bald konnte er die Schnapslieferungen nicht mehr bezahlen. Eines Tages kamen zwei Männer und nahmen den Spielautomaten mit.
    »Es war schrecklich. Schrecklich!«, rief Desdemona noch fünfzig Jahre später, wenn sie jene Zeit beschrieb. Während meiner Kindheit löste die geringste Erwähnung der Depression bei meiner jiajia die ganze Palette von Heulen und Sich-an-die- Brust-Schlagen aus. (Einmal sogar, als das Thema eigentlich »manische Depression« war.) Dann sackte sie auf ihrem Stuhl zusammen und presste die Hände vors Gesicht wie die Gestalt in Munchs Der Schrei - und tat es ihr gleich: »Mana! Die Depression! So schrecklich, ihr könnt nicht glauben. Alle haben die keine Arbeit. Ich weiß noch, die Märsche für die Hunger, alle Leute, die marschieren auf die Straße, eine Million Leute, einer nach die andere, einer nach die andere, wollen sagen Mr. Henry Ford, er soll aufmachen die Fabrik. Dann war einmal nachts bei uns auf die Straße ein Lärm, schrecklich. Die Leute, die töten Ratten, plam plam plam mit Stöcke, und dann sie essen die Ratten. O mein Gott! Und Lefty, der hat da nicht gearbeitet in die Fabrik. Der hat nur, nu, die Schummerkneipe gehabt, wo die Leute gekommen sind und haben getrunken. Aber in die Depression war mittendrin noch eine schlechte Zeit, Wirtschaft sehr schlecht, und niemand hat kein Geld gehabt für Trinken. Haben sie nichts zu essen, wie können sie da trinken? Also haben papou und jiajia bald kein Geld mehr gehabt. Und dann« - Hand aufs Herz -, »dann haben sie mich geschickt zu arbeiten bei die mavros. Bei die Schwarzen! O mein Gott!«
    Und das kam so. Eines Nachts legte sich mein Großvater zu meiner Großmutter ins Bett und merkte, dass sie nicht allein war. Milton, inzwischen acht Jahre alt, hatte sich an sie gekuschelt. Auf der anderen Seite

Weitere Kostenlose Bücher