Middlesex
waren noch immer schön, noch immer war sie eine attraktive Frau. Sie wandte sich wieder der Szenerie zu, die vorüberglitt. Was hätte meine Großmutter 1932 auf Detroits Straßen noch sehen können? Sie hätte Männer mit Schlapphüten sehen können, die an Straßenecken Äpfel verkauften. Sie hätte Zigarrendreherinnen sehen können, die vor fensterlose Fabriken getreten waren, um frische Luft zu schnappen, die Gesichter vom Tabakstaub auf Dauer braun gefleckt. Sie hätte Arbeiter sehen können, die, beschattet von Pinkerton-Detektiven, pro-gewerkschaftliche Flugblätter verteilten. In Seitenstraßen hätte sie möglicherweise antigewerkschaftliche Schlägertrupps gesehen, die eben jene Flugblattverteiler zusammenschlugen. Sie hätte Polizisten sehen können, zu Fuß und zu Pferd, von denen 60 Prozent Geheimmitglieder des weißen protestantischen Order of the Black Legion waren, der seine eigenen Methoden hatte, Schwarze, Kommunisten und Katholiken zu beseitigen. »Komm schon, Cal«, höre ich die Stimme meiner Mutter, »fällt dir denn gar nichts Nettes ein?« Na schön. 1932 galt Detroit als die »Stadt der Bäume«. Mehr Bäume pro Quadratkilometer als in jeder anderen Stadt im Land. Zum Einkaufen gab es Kern's und Hudson's. In der Woodward Avenue hatten die Automagnaten das wunderschöne Detroit Institute of Arts errichtet, wo genau in jenem Augenblick, als Desdemona zu ihrem Vorstellungs gespräch fuhr, ein mexikanischer Künstler namens Diego Rivera an seinem neuen Auftrag arbeitete: einem Wandgemälde, das die Mythologie der Automobilindustrie darstellte. Hoch oben auf einem Gerüst saß er auf einem Klappstuhl und skizzierte das große Werk: auf den oberen Wandfelder die vier androgynen Rassen der Menschheit, auf das River-Rouge-Fließband hinabblickend, wo Autobauer im körperlichen Gleichklang der Mühsal schuften. Kleinere Wandfelder zeigten die »Keimzelle« eines Säuglings, eingehüllt in eine Pflanzenknolle, die Wunder und Schrecken der Medizin, die einheimischen Früchte und Getreide Mi-chigans, und, ganz außen in einer Ecke, Henry Ford mit grauem, verkniffenem Gesicht, beim Durchsehen der Geschäftsbücher.
Die Bahn überquerte die Straßen McDougal, Jos. Campau und Chene, und dann, wobei sie leicht erzitterte, die Hastings Street. In dem Augenblick machten alle Fahrgäste, sämtlich Weiße, eine magische Handbewegung. Männer klopften sich auf Geldbörsen, Frauen sicherten ihre Handtaschen. Der Fahrer betätigte den Hebel, der die hintere Tür verschloss. Desdemona, die all das bemerkte, sah hinaus und stellte fest, dass der Wagen in das Ghetto Black Bottom gefahren war.
Es gab keine Straßensperre, keinen Zaun. Die Bahn stockte kaum, als sie die unsichtbare Grenze überfuhr, und dennoch war die Welt im Verlauf eines Straßenzugs eine andere geworden. Das Licht schien verändert, grau; wie von Wäsche, die an Leinen hing, gefiltert. Das Dunkel aus Veranden und Wohnungen ohne Strom sickerte auf die Straße, und die Gewitterwolke der Armut, die über dem Viertel stand, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Klarheit trost- und schattenloser Dinge: rote Backsteine, die an einer Stufe bröckelten, Müllhaufen und Schinkenknochen, abgefahrene Reifen, zertretene Windräd chen vom letzten Jahrmarkt, ein verlorener alter Schuh. Die Stille des Verfalls währte nur einen Augenblick, dann brach Black Bottom aus allen Gassen und Eingängen hervor. Die ganzen Kinder! So viele! Auf einmal rannten Kinder, winkend und schreiend, neben der Bahn her. Sie machten eine Mutprobe, sprangen vor sie auf das Gleis. Andere kletterten hinten auf den Wagen. Desdemona fuhr sich mit der Hand an den Hals. Warum haben die nur so viele Kinder? Was ist mit diesen Leuten los? Die mavro-Frauen sollten ihre Babys länger stillen. Das muss ihnen doch mal einer sagen. In den Seitenstraßen sah sie nun Männer, die sich an öffentlichen Wasserhähnen wuschen. Auf Veranden im ersten Stock reckten halb bekleidete Frauen das Becken vor. Voller Furcht und Entsetzen blickte Desdemona auf die vielen Gesichter in den Fenstern, die vielen Körper auf den Straßen, nahezu eine halbe Million Menschen, in fünfundzwanzig Häuserblocks gepfercht. Seit dem Ersten Weltkrieg, als E. I. Weiss, der Direktor der Packard Motor Company, laut eigenem Bericht die erste »Ladung Nigger« in die Stadt geholt hatte, meinte das Establishment, sie hier in Black Bottom halten zu müssen. Alle möglichen Berufe gab es hier auf engstem Raum, Gießer und Anwälte,
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