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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Lina.
    Meine Großmutter runzelte die Stirn. »Was ist das?«
    »Weiß ich nicht.«
    »So was wie Stoffe färben?«
    »Vielleicht.«
    »Weiter«, sagte Desdemona.
    »Zigarrendreherin«, fuhr Lina fort.
    »Ic h mag keinen Rauch.«
    »Hausmädchen.«
    »Lina, bitte. Ich kann doch nicht bei jemand Dienstmädchen sein.«
    »Seidenarbeiterin.«
    »Was?«
    »Seidenarbeiterin. Mehr steht da nicht. Und eine Adresse.«
    »Seidenarbeiterin? Ich bin Seidenarbeiterin. Da kenne ich mich aus.«
    »Dann herzlichen Glückwunsch, du hast eine Stelle. Falls sie nicht schon weg ist, wenn du hinkommst.«
    Eine Stunde später verließ meine Großmutter, für die Arbeitsuche herausgeputzt, widerstrebend das Haus. Sourmelina hatte sie zu überreden versucht, sich bei ihr ein tief ausgeschnittenes Kleid zu leihen. »Zieh das an, dann merkt keiner, was für ein Englisch du sprichst«, sagte sie. Doch Desdemona ging zur Straßenbahn in einem ihrer schlichten Kleider, grau mit braunen Punkten. Schuhe, Hut und Handtasche waren in Brauntönen, die beinahe harmonierten.
    Obwohl sie die Straßenbahn dem Auto vorzog, hatte Desdemona auch für sie nur wenig übrig. Es bereitete ihr Mühe, die Linien auseinander zu halten. Die launenhaften, wie von Geisterhand getriebenen Bahnen bogen ständig unerwartet ab, trugen sie in unbekannte Viertel. Als die erste Bahn hielt, schrie sie zum Schaffner: »Innenstadt?« Er nickte. Sie stieg ein, klappte einen Sitz nach unten und zog die Adresse, die Lina ihr aufgeschrieben hatte, aus der Handtasche. Als der Schaffner vorbeikam, zeigte sie sie ihm.
    »Hastings Street? Da wollen Sie hin?«
    »Ja. Hastings Street.«
    »Fahren Sie mit bis zur Gratiot. Dann nehmen Sie die Gratiot- Linie Richtung Innenstadt. An der Hastings steigen Sie dann aus.«
    Desdemona war erleichtert. Sie und Lefty nahmen die Gratiot- Linie immer nach Greektown. Jetzt war einfach alles klar. So, in Detroit wird keine Seide gemacht?, fragte sie ihren abwesenden Mann triumphierend. Und du willst so viel wissen. Die Geschäfte der Mack Avenue flogen vorbei, mehr als nur ein paar geschlossen, die Schaufenster zugeseift. Desdemona drückte das Gesicht an die Scheibe, hatte aber nun, da sie allein war, Lefty doch noch einiges zu sagen. Hätten mir diese Polizisten auf Ellis Island nicht meine Seidenraupen weggenommen, dann könnte ich jetzt im Garten eine Seidenraupenzucht anfangen. Dann brauchte ich mir keine Arbeit zu suchen. Wir könnten eine Menge Geld verdienen. Aber ich hab's dir gesagt. Die Kleidung der Fahrgäste, damals noch elegant, zeigte Spuren von Gebrauch: Hüte, monatelang nicht in Form gehalten, Säume und Manschetten ausgefranst, Krawatten und Revers mit Soßenflecken. Am Straßenrand hielt ein Mann ein handbeschriebenes Schild hoch: ICH-BRAUCHE- ARBEIT -UND-KEINE-MILDTÄTIGKEIT -WER-HILFT-MIR-EINE- ARBEIT-ZU-FINDEN.-7 JAHRE-IN-DETROIT. KEIN-GELD.- WEG-GESCHICKT -BIETE-BESTE-REFERENZEN. Nun sieh dir nur diesen armen Mann an. Mana! Sieht aus wie ein Flüchtling. Könnte genauso gut Smyrna sein, diese Stadt. Wo ist der Unterschied? Die Straßenbahn ächzte weiter, entfernte sich von dem, was ihr vertraut war, dem Gemüsehändler, dem Lichtspielhaus, den Feuerhydranten und Zeitungskiosks. Ihre Dorfaugen, die Bäume von Büschen mit einem Blick unterscheiden konnten, wurden ganz glasig von der Zeichenwelt entlang der Strecke, den inhaltslosen Antiquabuchstaben, die ineinander wirbelten, und den abgerissenen Plakatwänden mit amerikanischen Gesichtern, von denen sich die Haut abschälte, Gesichter ohne Augen, ohne Mund oder nur noch mit Nase. Als sie die Diagonale der Gratiot Avenue erkannte, stand sie auf und rief mit schallender Stimme: »Sonnamabitsch!« Sie hatte keine Ahnung, was dieses englische Wort bedeutete. Sie hatte es bei Sourmelina aufgeschnappt, die es benutzte, wenn sie ihre Haltestelle verpasst hatte. Wie immer funktionierte es. Der Fahrer brachte die Straßenbahn zum Stehen, und die Fahrgäste traten rasch beiseite, um sie hinauszulassen. Sie wirkten überrascht, als sie ihnen lächelnd dankte.
    In der Gratiot-Bahn sagte sie zum Schaffner: »Bitte, ich will Hastings Street.«
    »Hastings? Sicher?«
    Sie zeigte ihm die Adresse und sagte lauter: »Hastings Street.«
    »Gut. Ich sag Ihnen Bescheid.«
    Die Straßenbahn fuhr an, Richtung Greektown. Desdemona überprüfte ihr Spiegelbild im Fenster und richtete ihren Hut. Seit ihren Schwangerschaften hatte sie zugelegt, war an den Hüften fülliger geworden, aber Haut und Haare

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