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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Hausmädchen und Schreiner, Ärzte und Gangster, die meisten aber, 1932, arbeitslos. Dennoch kamen Jahr für Jahr, Monat für Monat immer mehr, auf der Suche nach einer Anstellung im Norden. Sie schliefen auf jedem Sofa in jedem Haus. Sie bauten in den Hinterhöfen Schuppen. Sie kampierten auf Dächern. (Das konnte natürlich nicht so bleiben. Mit der Zeit breitete sich Black Bottom trotz aller Versuche der Weißen, es einzudämmen, und der unerbittlichen Gesetze von Armut und Rassismus wegen langsam aus, Straße um Straße, Viertel um Viertel, bis das so genannte Ghetto zur gesamten Innenstadt geworden war und die Schwarzen in den 1970er Jahren - im Detroit des Bürgermeisters Coleman Young: der Stadt ohne Steueraufkommen, der Stadt, aus der die Weißen flohen, der Hauptstadt des Mordes - schließlich wohnen konnten, wo sie wollten...)
    Nun aber, noch 1932, geschah etwas Seltsames. Die Straßenbahn bremste ab. Mitten in Black Bottom hielt sie an und - das hatte es noch nie gegeben! - öffnete die Türen. Die Fahrgäste wurden nervös. Der Schaffner tippte Desdemona auf die Schulter. »Lady, da wären wir. Hastings.«
    »Hastings Street?« Sie glaubte ihm nicht. Sie zeigte ihm die Adresse noch einmal. Er wies zur Tür hinaus.
    »Ist hier Seidenfabrik?«, fragte sie den Schaffner.
    »Ich weiß nicht, was hier ist. Ist nicht mein Viertel.«
    Und so trat meine Großmutter auf die Hastings Street. Die Straßenbahn fuhr weiter, und weiße Gesichter blickten ihr nach, einer über Bord geworfenen Frau. Sie schritt los. Die Handtasche fest an sich gedrückt, hastete sie die Hastings Street entlang, als wüsste sie, wohin sie ging. Starr hielt sie den Blick nach vorn gerichtet. Auf dem Gehsteig machten Kinder Seilhüpfen. An einem Fenster im zweiten Stock zerriss ein Mann ein Blatt Papier und brüllte: »Von jetzt an kannst du meine Post nach Paris schicken, Postbote.« Veranden standen voller Wohnzimmermöbel, alten Sofas und Sesseln, Leute spielten Dame, stritten, drohten mit Fingern und brachen in Gelächter aus. Immer lachen sie, diese mavros. Lachen, lachen, als wäre alles komisch. Sagt, was ist denn da so komisch? Und was ist - o Gott! - da macht ein Mann sein Geschäft auf der Straße! Ich seh nicht hin. Sie kam am Vorgarten eines Schrottkünstlers vorbei: die sieben Weltwunder aus Flaschenverschlüssen. Ein betrunkener Alter, einen bunten Sombrero auf dem Kopf, bewegte sich in Zeitlupe, schwatzte mit seinem zahnlosen Maul und hielt eine Hand nach Kleingeld ausgestreckt. Aber was sollen sie auch tun? Sie haben keine Toiletten. Keine Kanalisation, schrecklich, schrecklich. Sie sah einen Frisiersalon, in dem sich Männer die Haar glätten ließen, Duschhauben auf dem Kopf wie Frauen. Von der anderen Straßenseite riefen junge Männer zu ihr her:
    »Baby, du hast so viele Kurven, da kommt man ja ins Schleudern!«
    »Du musst ein Doughnut sein, weil bei mir fließen die Säfte!« Sie hastete weiter, hinter ihr wurde schallend gelacht. Immer tiefer hinein, vorbei an Straßen, deren Namen sie nicht kannte.
    Auf einmal der Geruch unvertrauter Speisen in der Luft, im nahen Fluss gefangener Fisch, Schweinsknöchel, Maisgries, gebratene Mortadella, schwarze Bohnen. Aber auch viele Häuser, in denen gar nichts kochte, in denen niemand lachte oder sprach, dunkle Zimmer voller müder Gesichter und räudiger Hunde. Von einer solchen Veranda sprach sie schließlich jemand an. Gott sei Dank, eine Frau.
    »Verlaufen?«
    Desdemona musterte das weiche, modrige Gesicht. »Ic h suche Fabrik. Seidenfabrik.«
    »Hier gibt's keine Fabriken. Wenn's welche gab, dann sind sie geschlossen.«
    Desdemona reichte ihr die Adresse.
    Die Frau zeigte auf die andere Straßenseite. »Da.« Desdemona drehte sich um, und was sah sie? Sah sie ein braunes Backsteingebäude, das bis vor kurzem noch als McPherson Hall bekannt war? Ein Haus, das man für politische Versammlungen, Hochzeiten oder gelegentlich auch Auftritte eines fahrenden Hellsehers vermietet hatte? Fielen ihr die angedeuteten Verzierungen im Eingangsbereich auf, die römischen Vasen, aus denen Granitfrüchte herausfielen, der scheckige Marmor? Oder bündelte sich ihr Blick auf den beiden jungen Schwarzen in Habachtstellung vor der Haustür? Bemerkte sie ihre makellosen Anzüge, der eine im Hellblau planetarer Wasserflächen, der andere im blassen Lavendel französischer Pastillen? Gewiss hatte sie ihre militarisehe Haltung bemerkt, die auf Hochglanz polierten Schuhe, die grellen Krawatten. Sie

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