Middlesex
die letzte Stufe und sah sie.
Dreiundzwanzig halbwüchsige Mädchen in leuchtenden Tschadors und Kopftüchern, die Kleider nähten. Sie schauten kaum von ihrer Arbeit auf, als die Supreme Captain die Fremde hereinbat. Mit gesenkten Köpfen, Stecknadelfächer im Mund, und saumbedeckten Oxfords, die unsichtbare Pedale traten, hielten sie die Produktion aufrecht. »Das ist unsere Mädchenklasse für Muslimunterweisung und allgemeine Zivilisation. Sehn Sie, wie gut und ordentlich sie sind? Die sagen erst einen Ton, wenn man sie dazu aufgefordert hat.
›Islam‹ bedeutet Unterwerfung. Haben Sie das gewusst? Aber um auf die Anzeige zurückzukommen. Uns geht bald der Stoff aus. Anscheinend alle pleite.«
Sie führte Desdemona durch den Raum zu einer offenen Holzkiste voller Erde.
»Also haben wir diese Seidenraupen bei einer Firma bestellt. Postversand, ja? Da kommt noch mehr. Das Problem ist, denen scheint's hier in Detroit nicht zu gefallen. Kann ich ihnen nicht verübeln. Die sterben uns weg, und dann? Ooweeh, stinkt das! Mein lieber Herr Jes...« Sie unterbrach sich. »Bloß so eine Redensart. Ich bin geweiht erzogen worden. Sagen Sie, wie war noch gleich Ihr Name?«
»Desdemona.«
»Horn Sie zu, Des, bevor ich Supreme Captain wurde, hab ich Haare und Nägel gemacht. Bin keine Bauerntochter, ja? Ist das etwa ein grüner Daumen? Helfen Sie mir. Was mögen diese Burschen, diese Seidenraupen? Was müssen wir tun, damit sie, na ja, Seide geben?«
»Ist harte Arbeit.«
»Das macht uns nichts.«
»Braucht Geld.«
»Haben wir genug.«
Desdemona nahm eine eingeschrumpelte, kaum noch lebendige Raupe in die Hand. Sie flötete ihr auf Griechisch etwas zu.
»Passt auf, kleine Schwestern«, sagte Schwester Wanda, und auf einen Schlag hörten die Mädchen auf zu nähen, kreuzten die Hände auf dem Schoß und hoben aufmerksam den Kopf.
»Diese neue Dame zeigt uns, wie man Seide macht. Sie ist Mulattin wie Minister Fard, und sie bringt uns das Wissen der verlorenen Kunst unseres Volkes wieder. Damit wir es allein tun können.«
Dreiundzwanzig Augenpaare richteten sich auf Desdemona. Sie raffte ihren ganzen Mut zusammen. Sie übersetzte, was sie sagen wollte, ins Englische und ging es, noch bevor sie es sagte, zweimal durch. »Um gute Seide zu machen«, verkündete sie sodann als Anfang ihrer Lektion für Muslimunterweisung und allgemeine Zivilisation, »man muss rein sein.«
»Das versuchen wir, Des. Preis sei Allah. Das versuchen wir.«
TRICKNOLOGIE
Und so ergab es sich, dass meine Großmutter in die Dienste der Nation of Islam trat. Wie eine Putzfrau, die in Grosse Pointe arbeitet, kam und ging sie durch die Hintertür. Statt eines Hutes trug sie ein Kopftuch, um ihre unwiderstehlichen Ohren zu verbergen. Nie sprach sie lauter als im Flüsterton. Nie stellte sie Fragen oder beschwerte sich. Groß geworden in einem Land, das andere beherrscht hatten, war ihr das alles ganz vertraut. Die Feze, die Gebetsteppiche, die Halbmonde: Es hatte ein wenig von Nachhausekommen.
Für die Bewohner von Black Bottom war es wie eine Reise zu einem anderen Stern. In einer hübschen Verkehrung der meisten amerikanischen Haustüren ließ die Eingangstür des Tempels Schwarze herein und hielt Weiße fern. Die Gemälde, die vorher im Foyer gehangen hatten - Schicksalslandschaften, die vor Manifest Destiny barsten, Szenen von Massakern an Indianern -, waren in den Keller geschafft worden. An ihre Stelle waren Darstellungen afrikanischer Geschichte getreten: ein Prinz und eine Prinzessin, die an einem kristallklaren Fluss dahinschlendern, eine Geheimversammlung schwarzer Gelehrter, die unter freiem Himmel debattieren.
Die Menschen kamen in den Tempel Nr. 1, um Fards Vorträge zu hören. Aber auch zum Einkaufen. In der alten Garderobe stellte Schwester Wanda die Gewänder aus, die, wie der Prophet sagte, »die gleichen sind, die das Negervolk in ihrer östlichen Heimat trug«. Wenn die Bekehrten zum Bezahlen herantraten, ließ sie die schillernden Stoffe im Lampenschein wallen. Frauen tauschten die Hausmädchenuniform der Unterwürfigkeit gegen den weißen Tschador der Emanzipation. Männer ersetzten den Overall der Unterdrückung durch den Seidenanzug der Würde. Die Kasse des Tempels quoll über. In mageren Zeiten war die Moschee reich. Ford schloss Fabriken, doch bei Fard in der Hastings Street 3408 brummte das Geschäft.
Im dritten Stock sah Desdemona von alldem wenig. Vormittags unterrichtete sie im Klassenzimmer, nachmittags war sie
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