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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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im Seidenraum, in dem die Stoffballen lagerten. An einem Vormittag brachte sie ihre Seidenraupenkiste mit. Sie ließ die Kiste herumgehen, erzählte deren Geschichte, davon, wie ihr Großvater sie aus Olivenholz geschnitzt und wie sie einen Brand überstanden hatte, und das alles schaffte sie, ohne etwas Abschätziges über die Glaubensbrüder und -Schwestern ihrer Schülerinnen zu sagen. Ja, die Mädchen waren so reizend und freundlich, dass Desdemona sich wieder entsann, wie es gewesen war, als die Griechen und Türken einander noch verstanden hatten.
    Dennoch: Schwarze waren für meine jiajia noch immer etwas Neues. Was sie entdeckte, schockierte sie: »Innen auf der Hand«, teilte sie ihrem Mann mit, »sind die mavros genauso weiß wie wir.« Oder: »Die mavros haben keine Narben, nur Hubbel.« Oder: »Weißt du, wie die mavros sich rasieren? Mit einem Pulver! Das habe ich in einem Schaufenster gesehen.« Auf den Straßen von Black Bottom war Desdemona entsetzt darüber, wie die Leute lebten. »Keiner fegt. Auf den Veranden liegt der Müll, und keiner fegt ihn auf. Schrecklich.« Aber im Tempel war alles anders. Die Männer arbeiteten hart und tranken nicht. Die Mädchen waren sauber und bescheiden.
    »Dieser Mr. Fard macht etwas richtig«, sagte sie beim Sonntagsmahl.
    »Bitte.« Sourmelina wollte nichts davon wissen. »Wir haben unsere Schleier in der Türkei gelassen.«
    Aber Desdemona schüttelte den Kopf. »Diese amerikanischen Mädchen könnten schon den einen oder anderen Schleier vertragen.«
    Der Prophet selbst blieb Desdemona hinter einem Schleier verborgen. Fard war wie ein Gott: überall präsent und nirgends sichtbar. Er leuchtete in den Augen derer, die aus seinen Vorträgen kamen. Er manifestierte sich in den Ernährungsvorschriften, die ursprüngliche afrikanische Speisen empfahlen - Yam, Cassava - und den Genuss von Schwein verboten. Immer wieder sah Desdemona seinen Wagen - ein nagelneues Chrysler-Coupe - vor dem Tempel stehen. Stets war er frisch gewaschen und gewachst, der Chromgrill poliert. Aber nie sah sie Fard am Steuer.
    »Was erwartest du denn, er ist doch Gott«, sagte Lefty eines Abends belustigt, als sie zu Bett gingen. Desdemona lag lächelnd da, wie belebt von ihrem ersten Wochenlohn, der unter der Matratze versteckt lag. »Ich brauche nun mal eine Vision«, sagte sie.
    Ihr erstes Projekt im Tempel Nr. 1 war es, die Außentoilette in eine Seidenraupenzüchterei umzuwandeln. Sie hatte die Fruit of Islam, wie der militante Flügel der Nation of Islam genannt wurde, zu Hilfe gebeten und stand, während die jungen Männer den Holzabort aus dem wackeligen Schuppen zogen, daneben. Sie füllten die Senkgrube mit Erde, nahmen die alten Pin-up- Kalender von den Wänden und warfen das anstößige Material, den Blick abgewandt, in die Mülltonne. Sie stellten Regale auf und bohrten Lüftungslöcher in die Decke. Trotz ihrer Bemühungen hielt sich ein unangenehmer Geruch. »Wartet's nur ab«, sagte sie zu ihnen. »Verglichen mit den Seidenraupen ist das gar nichts.« Oben wurden von der Mädchenklasse für Muslimunterweisung und allgemeine Zivilisation Futterschalen gewoben. Desdemona versuchte, die erste Lieferung Seidenraupen zu retten. Sie wärmte sie unter elektrischen Glühbirnen und sang ihnen griechische Lieder vor, aber die Seidenraupen ließen sich nicht täuschen. Nachdem sie aus ihren schwarzen Eiern geschlüpft waren, spürten sie die trockene Innenluft und die falsche Glühbirnensonne und schrumpelten zusammen. »Es sind noch mehr unterwegs«, sagte Schwester Wanda, diesen Rückschlag beiseite wischend.
    »Sind bald da.«
    Die Tage vergingen. Desdemona gewöhnte sich an die blassen Innenflächen der afroamerikanischen Hände. Es machte ihr nichts mehr aus, zur Hintertür hineinzugehen und erst zu sprechen, wenn sie dazu aufgefordert wurde.
    Unterrichtete sie nicht gerade die Mädchen, wartete sie oben im Seidenraum.
    Der Seidenraum: Eine Beschreibung ist wohl angebracht. (So viel geschah in diesem fünf mal sieben Meter großen Raum: Gott sprach, meine Großmutter verleugnete ihre Herkunft, die Schöpfung wurde erklärt, und das ist nur der Anfang.) Es war ein kleiner Raum mit niedriger Decke, an einem Ende stand ein Schneidetisch. Seidenballen lehnten an den Wänden. Die Plüschigkeit umfasste Boden und Decke, wie im Innern eines Schmuckkästchens. Stoffe waren immer schwieriger zu bekommen, aber Schwester Wanda hatte einen beträchtlichen Vorrat angelegt.
    Manchmal war es, als

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