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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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tanzte die Seide. Aufgewühlt von Luftströmen mysteriösen Ursprungs, flatterten die Stoffe und wehten durch den Raum. Desdemona musste das Tuch wieder einfangen und aufrollen.
    Und eines Tages hörte sie inmitten eines gespenstischen Pas de deux - eine grüne Seide führte, Desdemona beim Rück wärtsschritt - eine Stimme.
    »ICH WURDE AM 11. FEBRUAR 1817 IN DER HEILIGEN STADT MEKKA GEBOREN.«
    Zunächst glaubte sie, jemand sei ins Zimmer gekommen. Doch als sie sich umdrehte, war niemand da.
    »MEIN VATER WAR ALPHONSO, EIN EBENHOLZFAR BENER MANN VOM STAMME SHABAZZ. DER NAME MEINER MUTTER WAR BABY GEE. SIE WAR EINE WEISSE, EINE TEUFELIN.«
    Eine was? Desdemona konnte es nicht richtig hören. Auch nicht bestimmen, woher die Stimme kam. Jetzt schien sie vom Fußboden auszugehen. »MEIN VATER LERNTE SIE IN DEN BERGEN OSTASIENS KENNEN. ER SAH POTENZIAL IN IHR. ER FÜHRTE SIE AUF RECHTSCHAFFENE WEGE, BIS SIE EINE HEILIGE MUSLIMIN GEWORDEN WAR.«
    Nicht, was die Stimme sagte, faszinierte Desdemona - was gesagt wurde, verstand sie nicht. Es war der Klang der Stimme, ein tiefer Bass, der ihr Brustbein zum Schwingen brachte. Sie ließ von der tanzenden Seide ab. Sie schob ihr Kopftuch zurück, um zu lauschen. Und als die Stimme wieder anhob, suchte sie zwischen den Seidenballen nach ihrem Ausgangspunkt. »WARUM HEIRATETE MEIN VATER EINE WEISSE TEUFELIN? WEIL ER WUSSTE, DASS SEIN SOHN AUSERSEHEN WAR, DAS WORT ZU DEM VERLORENEN TEIL DES STAMMES SHABAZZ ZU BRINGEN.« Drei, vier, fünf Ballen, und da war es: ein Heizungsrost. Nun war die Stimme lauter. »DAHER GLAUBTE ER, DASS ICH, SEIN SOHN, EINE HAUTFARBE HABEN SOLLTE, DIE ES MIR GESTATTEN WÜRDE, MIT WEISSEN EBENSO WIE MIT SCHWARZEN MENSCHEN GERECHT UND RECHTSCHAFFEN ZU VERKEHREN. UND SO BIN ICH HIER, EIN MULATTE, WIE VOR MIR MUSA, DER DEN JUDEN DIE GEBOTE BRACHTE.«
    Aus den Tiefen des Gebäudes stieg die Stimme des Propheten empor. Sie kam aus dem Vortragsraum drei Stockwerke tiefer. Sie drang durch die Falltür auf der Bühne, aus der bei den Versammlungen der Tabakhändler früher die Rondega-Girls herausgesprungen waren, mit nichts als einer Zigarrenbinde bekleidet. Die Stimme hallte durch den Kriechgang, der in die Kulissen führte, von wo sie in einen Heizungsschacht gelangte und im ganzen Gebäude zirkulierte, verzerrt und mit Echo, bis sie erhitzt aus dem Gitter schoss, vor dem Desdemona nun kauerte. »MEINE ERZIEHUNG WIE AUCH DAS KÖNIGLICHE BLUT, DAS IN MEINEN ADERN FLIESST, HÄTTEN MICH VIELLEICHT DAZU AUSERSEHEN, EINE MACHTPOSITION ZU ERSTREBEN. DOCH ICH HÖRTE MEINEN ONKEL WEINEN, BRÜDER. ICH HÖRTE MEINEN ONKEL IN AMERIKA WEINEN.«
    Sie konnte mittlerweile auch einen leichten Akzent erkennen. Sie wartete auf mehr, doch es folgte nur Stille. Heizungsluft blies ihr ins Gesicht. Sie beugte sich tiefer und lauschte. Aber die Stimme, die sie als Nächstes hörte, war die von Schwester Wanda auf dem Treppenabsatz: »Juhuu! Des! Wir warten auf Sie!«
    Und sie riss sich los.
    Meine Großmutter war die einzige Weiße, die W. D. Fard jemals hatte predigen hören, und sie verstand weniger als die Hälfte dessen, was er sagte. Das kam von der schlechten Akustik des Heizungsschachts, ihrem unvollkommenen Englisch und der Tatsache, dass sie immer wieder den Kopf hob, um zu horchen, ob jemand sich näherte. Desdemona wusste, dass es ihr untersagt war, Fards Vorträge mitzuhören. Das Letzte, was sie wollte, war, ihre neue Arbeit zu gefährden. Aber sonst konnte sie ja nirgends! hin.
    Jeden Tag um ein Uhr begann der Rost zu grummeln. Erst hörte sie den Lärm der Menschen, die den Vortragsraum betraten. Dem folgte Gesang. Sie rollte weitere Seidenballen vor den Rost, um die Laute zu dämpfen. Sie rückte ihren Stuhl ans andere Ende des Seidenzimmers. Aber nichts half.
    »VIELLEICHT ERINNERN SIE SICH, DASS ICH IHNEN IN MEINEM LETZTEN VORTRAG VON DER DEPORTATION DES MONDES BERICHTET HABE?«
    »Nein«, sagte Desdemona.
    »VOR SECHZIG BILLIONEN JAHREN GRUB EIN GOTT WISSENSCHAFTLER EIN LOCH DURCH DIE ERDE, FÜLLTE ES MIT DYNAMIT UND SPRENGTE DIE ERDE IN ZWEI TEILE. DER KLEINERE DIESER TEILE WURDE DER MOND. ERINNERN SIE SICH DARAN?«
    Meine Großmutter presste sich die Hände auf die Ohren; auf ihrem Gesicht zeigte sich Ablehnung. Aber ihren Lippen entwich eine Frage: »Jemand hat die Erde gesprengt? Wer?«
    »HEUTE MÖCHTE ICH IHNEN VON EINEM ANDEREN GOTTWISSENSCHAFTLER ERZÄHLEN. EINEM BÖSEN WISSENSCHAFTLER. MIT NAMEN YACUB.«
    Und nun spreizten sich ihre Finger und ließen die

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