Midkemia Saga 02 - Der verwaiste Thron
die Grabkammer. Er ging zwischen den ehemaligen Trägern seines Namens hindurch, die dort ruhten. Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, Schurken und Halunken, Heilige und Gelehrte und Weise säumten seinen Weg. Am jenseitigen Ende der Gruft sah er Lyam neben dem Katafalk sitzen, der den steineren Sarg seines Vaters trug. Borrics Ebenbild war in die Oberfläche des Sarges eingemeißelt worden, und es sah aus, als würde der verstorbene Herzog von Crydee einfach schlafen.
Langsam näherte sich Arutha, denn Lyam schien tief in Gedanken versunken. Lyam blickte auf.
»Ich fürchtete schon, du würdest zu spät kommen.«
»Ich auch. Wir hatten schlechtes Wetter und sind nur langsam vorangekommen, aber wir sind doch alle hier. Also, was hat dein merkwürdiges Verhalten zu bedeuten ? Anita hat mir erzählt, daß du die ganze Nacht hier gewesen bist, und daß es irgendein Geheimnis gibt. Was ist das?«
»Ich habe gründlich über diese Angelegenheit nachgedacht Arutha. Das gesamte Königreich wird in wenigen Stunden Bescheid wissen, aber ich wollte, daß du siehst, was ich getan habe, und daß du hörst, was ich zu sagen habe, ehe es die anderen erfahren.«
»Anita sagte, daß Martin heute morgen hier bei dir gewesen ist. Was ist los, Lyam?«
Lyam trat beiseite und wies auf den Katafalk. In die Steine der Begräbnisstätte waren folgende Worte eingemeißelt:
HIER RUHT BORRIC,
DRITTER HERZOG VON CRYDEE,
EHEMANN VON CATHERINE,
VATER VON
MARTIN,
LYAM,
ARUTHA
UND CARLINE
Arutha bewegte die Lippen, aber kein Wort entrang sich seiner Kehle. Er schüttelte den Kopf.
»Was hat dieser Irrsinn zu bedeuten?«
Lyam trat zwischen Arutha und das Ebenbild seines Vaters. »Das ist kein Irrsinn, Arutha. Vater hat Martin auf seinem Sterbebett anerkannt. Er ist unser Bruder. Er ist der Älteste.«
Aruthas Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Warum hast du mir das nicht erzählt?« Sein Ton war gequält. »Welches Recht hattest du, das vor mir zu verbergen?«
Lyam hob nun auch die Stimme. »Alle, die davon wußten, wurden zur Geheimhaltung verpflichtet. Ich konnte nicht riskieren, daß irgend jemand davon erfuhr, ehe der Frieden besiegelt war. Es gab zu viel zu verlieren.«
Arutha drängte sich an seinem Bruder vorüber und starrte ungläubig auf die Inschrift. »Jetzt ergibt das alles einen verteufelten Sinn. Martins Ausschluß vom Großen Wählen. Die Art, wie Vater sich immer um ihn kümmerte und ein Auge auf ihn hatte. Seine Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte.« Bitterkeit klang aus Aruthas Worten. »Aber warum jetzt? Warum hat Vater Martin nach so vielen Jahren des Leugnens doch noch anerkannt?«
Lyam versuchte, Arutha zu trösten. »Ich habe versucht, so viel wie möglich von Kulgan und Tully zu erfahren. Außer ihnen wußte niemand davon, nicht einmal Fannon. Vater war ein Gast Brucals, nach Großvaters Tod. Er hat sich mit einem hübschen Dienstmädchen eingelassen und Martin gezeugt. Erst fünf Jahre später hat Vater von ihm erfahren. Inzwischen war er am Hofe, hatte Mutter kennengelernt und geheiratet. Als er von Martin erfuhr, war dieser bereits von seiner Mutter verlassen und den Mönchen von Silbans Abtei übergeben worden. Vater beschloß, Martin in ihrer Obhut zu lassen.
Als ich dann geboren wurde, empfand Vater Trauer und Reue, weil er einen Sohn hatte, der ihm unbekannt war. Als ich dann sechs Jahre alt war, war Martin bereit für das Große Wählen. Vater sorgte dafür, daß er nach Crydee gebracht wurde. Aber er wollte ihn nicht anerkennen, aus Furcht, Mutter zu beschämen.«
»Warum hat er es dann jetzt getan?«
Lyam betrachtete die Darstellung ihres Vaters. »Wer weiß schon, was im Kopfe eines Mannes vorgeht, der im Sterben liegt?
Vielleicht ist er dann schuldbewußter, oder es ist ein Gefühl von Ehre. Was auch immer der Grund war, er hat Martin anerkannt und Brucal kann es bezeugen.«
Noch immer klang Zorn aus Aruthas Stimme. »Jetzt müssen wir mit diesem Irrsinn fertig werden, ungeachtet Vaters Gründe dafür, ihn zu schaffen.« Wütend starrte er Lyam an. »Was hat er gesagt, als du ihn hierhergebracht und ihm das gezeigt hast?«
Lyam schaute fort, als schmerze ihn, was er nun sagen mußte. »Er stand schweigend da. Dann sah ich ihn weinen. Und schließlich sagte er: ›Ich bin froh, daß er es dir erzählt hat.‹ Arutha, er hat es gewußt.« Lyam packte seinen Bruder am Arm. »All die Jahre hat Vater gedacht, er wüßte nichts davon, aber Martin hat es
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