Midnight Angel: Dunkle Bedrohung (German Edition)
erinnerte sich an den großen Saal der Stiftung, von … von früher. Als sie noch sehen konnte. Claire hatte gesagt, sie erwarte bei der Eröffnung rund zweihundert Gäste. Und die redeten jetzt anscheinend alle gleichzeitig in voller Lautstärke. In der Nähe hörte sie ein paar Frauen schluchzen und zwei scharfe Männerstimmen, die ihrem Ärger Luft machten. Es hallte unter der hohen Decke. Funkgeräte knackten im Hintergrund, und ab und zu forderte jemand im Beamtenton einen Gast auf, mitzukommen.
Sonst war nichts zu verstehen. Ein unablässiger Schwall verwirrender Geräusche drang auf sie ein, und sie kamen von allen Seiten, sodass sie kaum noch unterscheiden konnte, wo oben und unten war. Seit dem Unglück war sie höchstens mit zwei oder drei Menschen gleichzeitig im selben Raum gewesen. Sie hatte lange Tage allein in ihrer stillen Wohnung zugebracht und nur Hintergrundmusik als Gesellschaft gehabt. Seit sie blind war, konnte sie die Quelle eines Geräusches nicht mehr orten.
Daher machte sie das akustische Durcheinander schwindlig. Das Einzige, was ihr im Moment Orientierung und Halt gab, war Douglas Kowalski, dieser große, starke, breitschultrige Mann. Er war das stabile Zentrum ihrer Welt. Während sie sich an ihm festhielt, ließ das Schwindelgefühl langsam nach, und schließlich konnte sie aus dem Lärm einzelne Stimmen herausfiltern. Die Leute bewegten sich offenbar zum Ausgang. Ihr Herz hörte auf, diesen panischen Trommelwirbel zu schlagen.
Sie holte lange und tief Luft, dann gleich noch einmal.
»Besser ?« , fragte er ruhig.
Er wusste es, irgendwie wusste er es.
Allegra schluckte. Sie hob den Kopf und schämte sich plötzlich. Die Schüsse und Schreie hatten sie aus der Fassung gebracht; sie war in ein tiefes Loch gefallen und von der albtraumhaften Erinnerung überwältigt worden. Gewöhnlich hatte sie sich besser im Griff.
Sie zog die Brauen zusammen. »Du hast mir nicht gesagt, wo Claire ist .« Sie erschrak. Er hatte es nicht vergessen, er verschwieg ihr etwas. »Wo ist sie? Geht es ihr gut? Oh Gott, ihr ist doch hoffentlich nichts passiert ?« Allegra drehte hektisch den Kopf, wie um Claire irgendwo zu entdecken.
»Ich vermute, dass sie im Krankenhaus ist « , antwortete Douglas ruhig und hielt sie fest, als sie sich aufgeregt wegdrehen wollte. »Claire ist unverletzt, keine Sorge. Aber Bud hat eine Kugel in die Brust bekommen. Die Sanitäter haben ihn mitgenommen, und Claire ist bei ihm geblieben .«
Oh Gott, die arme Claire … »Ich würde gern wissen, wie es ihm geht. Wen können wir danach fragen ?« Hoffentlich ging das gut aus, es musste einfach gut ausgehen. Bud tot, weil er sie alle hatte retten wollen – das war zu viel, daran wollte sie nicht einmal denken. Claire war total verliebt in ihn. Und sie hatte in ihrem Leben schon so viel durchgemacht. Ihr war so viel genommen worden. Zehn Jahre ihres Lebens hatte sie der Leukämie geopfert. Bud war die Liebe ihres Lebens, und sie hatten gerade erst ein paar Wochen miteinander verbracht. Wie sollte sie seinen Verlust verschmerzen?
Früher – als die alte Allegra, die glückliche Sängerin und Harfenistin – wäre sie absolut zuversichtlich gewesen, dass Bud wieder auf die Beine käme. Sie hätte sich gesagt, er habe sicher nur eine Fleischwunde, und die werde dafür sorgen, dass Bud und Claire wieder zueinanderfänden. So funktionierte das Leben. Ab und zu passierte mal etwas, aber nichts allzu Schlimmes. Es diente nur dazu, dass man wertschätzte, was man besaß. Und dann war alles wieder gut.
Inzwischen wusste sie es besser. Ständig passierten entsetzliche Dinge, die sich nicht wiedergutmachen ließen, niemals. Es gab so viel Unglück auf der Welt, Verlorenes, das sich nicht zurückholen ließ, Schmerz, der nicht zu stillen war.
»Bitte, finde heraus, ob Bud am Leben ist « , flüsterte sie und schauderte bei dem Gedanken an die Alternative.
»Okay .« Douglas ließ sie los. »Aber vorher ziehst du dir etwas über. Hier stehen alle Türen offen, und es ist kalt. Dann werde ich mich umhören, ob jemand Nachricht aus dem Krankenhaus hat .«
Er legte ihr sein Jackett um die Schultern. Sie erkannte es am Geruch und an der Größe. Es roch leicht nach Mottenkugeln und Seife. Nicht nach Rasierwasser. Er benutzte anscheinend keins. Die Jacke war so riesig, sie hatte sie fast völlig bedeckt, als sie unter der Bühne lag und hilflos auf ihn wartete.
Sie schob die Arme hinein und war dankbar für die Wärme. Das Jackett hing
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