Midnight Breed 03 - Geschöpf der Finsternis-neu-ok-13.11.11
schon?“
„Schon mein ganzes Leben lang,
schätze ich.“ Tess strich sich eine honigblonde Locke hinters Ohr und zuckte
die Schultern.
„Ich habe sie lange gar nicht
benutzt. Ich habe mir nur gewünscht, dass sie verschwindet, weißt du? Um
endlich … normal sein zu können.“
Elise nickte, sie verstand sie
vollkommen. „Aber du hast Glück, Tess. Deine Gabe ist eine der Stärke. Sie
bewirkt Gutes.“
Unter den meerblauen Augen der
Stammesgefährtin schienen sich dunkle Schatten zu sammeln. „Ja, das tut sie
jetzt. Das habe ich in erster Linie Dante zu verdanken. Bevor ich ihn getroffen
habe, hatte ich keine Ahnung, warum ich so anders war als andere Frauen. Ich
habe meine Gabe als Fluch betrachtet. Und jetzt wünsche ich mir, sie ginge noch
tiefer. Es gibt so viel mehr, was ich gerne können würde - zum Beispiel das mit
Rio.“
Elise kannte den Krieger, von
dem Tess sprach. Sie hatte ihn in einem der anderen Krankenzimmer gesehen, als
Gideon sie in die Krankenstation geführt hatte. Als sie an seiner offenen
Zimmertür vorbeigingen, hatte Rio von seinem Krankenhausbett aufgesehen, die
eine Seite seines Gesichts von alten Brandnarben entstellt, die Muskeln seines
nackten Oberkörpers von Splitternarben und verheilten Furchen bedeckt, die auf
einige sehr schwerwiegende innere Verletzungen hindeuteten. Seine topasfarbenen
Augen hatten stumpf unter der überlangen, dunkelbraunen Mähne hervorgeblickt,
die ihm ins Gesicht fiel. Elise hatte ihn nicht anstarren wollen, aber die
Qual, die sie in seinem Gesicht gesehen hatte, hatte ihre Aufmerksamkeit
gefesselt - mehr noch als der verwüstete Zustand, in dem sich sein Körper
befand.
„Gegen alte Wunden und Narben
kann ich nichts machen“, sagte Tess. „Und am Schlimmsten sind oft die
seelischen Verletzungen. Rio ist ein guter Mann, aber er ist auf eine Weise
beschädigt, dass er sich vermutlich nie wieder davon erholen wird, und es gibt
keine Gabe einer Stammesgefährtin, die ihm diese Art von Schmerzen nehmen
kann.“
„Liebe vielleicht?“, schlug
Elise hoffnungsvoll vor.
Tess schüttelte den Kopf. „Die
Liebe hat ihn schon einmal verraten. Sie hat ihn zu dem gemacht, was er jetzt
ist. Ich glaube nicht, dass er jemals wieder einen Menschen so nahe an sich
heranlässt. Er lebt nur noch dafür, endlich wieder mit den anderen Kriegern
loszuziehen. Dante und ich versuchen, ihn davon zu überzeugen, die Dinge
langsam angehen zu lassen, aber wenn man versucht, Rio zurückzuhalten, wird er
nur umso ungeduldiger.“
Elise konnte sich mit dem
entschlossenen Drang des Kriegers identifizieren, die Dinge wieder selbst in
die Hand zu nehmen, selbst wenn es dabei nur um Rache ging. Sie selbst wurde
von einem ähnlichen Drang angetrieben, und der ließ nicht nach, nur weil andere
ihr rieten, sich zurückzuhalten.
Im Korridor vor dem
Behandlungszimmer war das Geräusch leichtfüßiger Schritte zu hören, dem Gang
nach war es eine Frau, unterlegt vom schnellen, rhythmischen Getrippel eines
vierfüßigen Begleiters. Savannah und ein lebhafter brauner Terrier erschienen
in der Tür. Gideons hübsche Stammesgefährtin schenkte Elise ein warmes Lächeln.
„Alles okay mit dir?“
„Alles bestens, wir sind gerade
fertig“, sagte Tess, trocknete sich die Hände an einem Papierhandtuch ab und
beugte sich hinunter, um den kleinen Hund unter dem Kinn zu kraulen, der von
ihr ganz offensichtlich hin und weg war. Wieder und wieder sprang er an ihr
hoch und leckte ihr begeistert das Gesicht.
Savannah kam ins Zimmer und fuhr
vorsichtig mit dem Finger über Elises verheilten Arm. „So gut wie neu. Ist sie
nicht erstaunlich?“
„Ihr alle seid erstaunlich“,
antwortete Elise und meinte es auch so. Sie hatte Savannah und Gabrielle erst
vor Kurzem kennengelernt, als beide Frauen kurz nach ihrer Ankunft im
Hauptquartier heruntergekommen waren, um nach ihr zu sehen. Savannah mit ihrem
wunderschönen mokkafarbenen Teint und den samtigen braunen Augen hatte mit
ihrer sanften, fürsorglichen Art sofort dafür gesorgt, dass sich Elise zu Hause
fühlte. Auch Gabrielle war liebenswürdig, eine rotblonde Schönheit, die viel
gereifter schien, als es ihrem Alter entsprach.
Und dann war da die hübsche,
ruhige Tess, die sich so mitfühlend um Elise gekümmert hatte, als sei sie ein
Mitglied ihrer eigenen Familie.
Elise fühlte sich ihnen allen
gegenüber beschämt. Sie war in den Dunklen Häfen aufgewachsen, wo die
Ordenskrieger im besten Fall als anachronistische, gefährliche
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