Midnight Breed 04 - Gebieterin der Dunkelheit-neu-ok-14.11.11
kleinen Reisekoffer zuzog, aufstellte und
gegen eines der beiden Doppelbetten in ihrem Viererzimmer lehnte.
„Mein Chef. Anscheinend
hat er da was nicht kapiert. Als ich sagte, dass ich heute Abend aus Prag
abreise, habe ich das wirklich so gemeint.“
Vielmehr
hieß das, dass er es durchaus verstanden hatte, aber dass es ihm schnuppe war.
Laut seiner E-Mail sollte Dylan den tschechischen Fotografen morgen für einen
Tagestrip nach Jicín treffen.
Marie kam
herüber und warf einen Blick auf den Laptop. „Geht es um deine Story?“
Dylan
nickte. „Er denkt, mit ein paar Bildern mehr wird sie interessanter. Er will,
dass ich mich morgen früh mit jemandem treffe. Er hat den Termin für mich schon
klargemacht.“
„Aber wir
müssen in einer knappen Stunde am Bahnhof sein“, bemerkte Janet.
„Ich weiß“,
sagte Dylan und begann, eine entsprechende Antwort zu tippen.
Sie erklärte
darin, dass sie und ihre Reisegefährtinnen den Nachtzug nach Wien nehmen würden
- der letzten Station ihrer Europareise vor ihrem Heimflug in die Staaten. Sie
würde sich nicht mit dem Fotografen treffen können, da sie heute um
zweiundzwanzig Uhr aus Prag abreiste.
Dylan
beendete ihre Antwort, aber als die Maus schon über Nachricht abschicken schwebte,
zögerte sie. Sie hatte schon einen festen Platz auf Coleman Hoggs persönlicher
Abschussliste. Wenn sie diesen Auftrag ausschlug - aus welchem Grund auch immer
-, wusste sie ohne den allerleisesten Zweifel, dass sie sich ihren Job
abschminken konnte.
Und so
verlockend dieser Gedanke auch war, momentan konnte sie es sich absolut nicht
leisten, gefeuert zu werden.
„Ach
verflixt und zugenäht“, murmelte sie und klickte stattdessen Nachricht
löschen. „Es ist zu spät, ich kann diesen Termin nicht mehr absagen. Und
wahrscheinlich sollte ich das auch gar nicht. Ihr werdet ohne mich nach Wien
fahren müssen. Ich muss hierbleiben und mich um diese Story kümmern.“
Rio stieg in
Prag aus einem völlig überfüllten Zug. Durch das Blut, das er konsumiert hatte,
und die Wut, die durch all seine Nervenenden rauschte, waren seine
Stammesinstinkte hellwach und in höchster Alarmbereitschaft, als er auf den
belebten Bahnsteig stieg. Seine Beute war nach ihrer Begegnung hierher nach
Prag geflüchtet. Er war ihrer Duftspur gefolgt, den Berg hinunter bis nach
Jicín. Dort war es ihm mit einigen Überredungskünsten seiner mentalen Kräfte
gelungen, den Eigentümer des kleinen Hotels dazu zu bewegen, ihm zu verraten,
dass er nach Prag musste. Die junge Amerikanerin und ihre Reisegefährtinnen
hatten erwähnt, dass sie sich zur letzten Station ihrer Europareise aufmachten.
Der Mann,
den Rio völlig willfährig gemacht hatte, war auch sofort bereit gewesen, ihm
mit einem leichten Trenchcoat auszuhelfen, der sich unter den Fundsachen des
Hotels befunden hatte. Obwohl der maulwurfsgraue Mantel zu warm für die
Jahreszeit und außerdem viel zu klein war, verbarg er doch immerhin zum größten
Teil die verdreckten, blutbesudelten Lumpen, die er darunter trug. Sein
Aussehen und auch sein recht strenger Körpergeruch waren ihm vollkommen egal,
aber deshalb musste er doch keine unangemessene Aufmerksamkeit auf sich ziehen,
indem er sich in der Öffentlichkeit wie einer Monstershow entsprungen zeigte.
Rio
versuchte, seinen ungewöhnlich großen und muskulösen Körper zu verbergen, indem
er in einen gebückten, aber doch zielstrebig schlurfenden Gang verfiel, während
er durch den Bahnhof schlenderte. Keiner der Vorübergehenden sah ihn genauer
an. Die Menschen taten ihn unbewusst sicher als einen von den Dutzenden von
Obdachlosen ab, die an den Bahnsteigen herumhingen oder in den Ecken und
Winkeln des Bahnhofs übernachteten, während die Züge quietschend ein- und
abfuhren.
Mit
gesenktem Kopf, um die von Brandnarben entstellte linke Seite seines Gesichts
zu verbergen, und einem unter dem Vorhang seines ungepflegten Haares wachsamen
Blick ging Rio auf den Ausgang zu.
Dort ging es
auf direktem Weg ins Herz der Stadt, wo er seine Jagd nach der Frau und ihren
verhängnisvollen Fotos wieder aufnehmen würde.
Die Wut
hielt seine Konzentration wach, selbst als sich ihm in der lärmenden, grell
beleuchteten Bahnhofshalle der Kopf zu drehen begann. Er ignorierte das
Schwindelgefühl und die Verwirrung, die ihn zu überwältigen drohten,
unterdrückte sie, so gut er nur konnte, um sich nicht von seinem Weg abbringen
zu lassen.
Er kämpfte
den Nebel vor seinen Augen nieder und ging gerade durch
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