Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
gesammelt haben.“
Reichen beruhigte sich und ließ sich gegen die
Wand sinken. Er fluchte laut und senkte seinen Kopf zwischen die hochgezogenen
Knie. Er konnte Claire in seinem Blut spüren. Seine Verbindung zu ihr gab ihm
die nötige Gewissheit, dass sie tatsächlich okay war. Sie war die Ruhe unter
der tobenden Flut seiner Venen, kühles Wasser, das die trockene Hitze des
Feuers linderte, das nur auf die Gelegenheit wartete, ihn zu verschlingen.
„Was, wenn alles schon zu weit gegangen ist,
Tegan?“ Seine Stimme klang hölzern und hohl, selbst in seinen eigenen Ohren. „Was,
wenn alles, was wir durchgemacht haben, wenn alles, was ich versucht habe, um
sie zu beschützen, nicht genug war? Was, wenn die Vision, die sie gesehen hat,
Wirklichkeit wird? Das Einzige, wovor ich sie schützen kann, ist vor mir. Was,
wenn Claire mir irgendwann zu nahe kommt und das Feuer sie umbringt?“
„Und was, wenn du dich irrst?“, meinte Tegan. „Wenn
sie das Einzige ist, das dich vor dir selbst retten kann?“
Reichen starrte den abgebrühten
Gen-Eins-Krieger an, der einst das legendäre Kunststück fertiggebracht hatte,
sechzehn Rogue-Vampire im Alleingang auszuschalten. Von der herzlichen Sorte
war Tegan nie gewesen, doch jetzt stand in seinen Augen eine abgeklärte
Lebensklugheit - ein mitfühlendes Wissen, das noch nicht da gewesen war, als
Reichen ihn zuletzt, vor fast einem Jahr, in Berlin gesehen hatte.
Die Liebe zu seiner Stammesgefährtin Elise
hatte ihn irgendwie verändert, ihn stärker gemacht und zugleich ein paar seiner
schärfsten Kanten geglättet.
Doch Tegan und Elise hatten andere Hürden
überwinden müssen. Seine Beziehung zu Claire war fast von Anfang an kompliziert
gewesen. Und inzwischen schien sie praktisch unmöglich.
„Ich kann es nicht riskieren“, sagte Reichen. „Ich
will es nicht. Wenn ich untergehe, dann tue ich das verflucht noch mal allein.“
Tegan atmete scharf aus und verzog das Gesicht
zu einem nicht eben freundlichen Lächeln. „Mit Glanz und Gloria, wie?“
„So was in der Art“, gab Reichen zurück.
Unvermittelt erhob sich der Krieger und warf
ihm einen abschätzigen Blick zu. „Du glaubst vielleicht, dass du Claire vor
Schaden bewahrst, indem du sie wegschiebst. Aber der Einzige, den du dadurch
schützt, bist du selbst. Wenn du verlierst, egal ob gegen die Pyro oder die
Blutgier, wird es diese Frau umbringen, und das weißt du. Du willst bloß dafür
sorgen, dass du nicht dabei bist und es mitkriegst.“
Reichen machte keinen Versuch, den Vorwurf
zurückzuweisen. Tegan gab ihm auch keine Gelegenheit dazu. Er kehrte Reichen
den Rücken zu und verließ mit großen Schritten den Waffenraum. Beim Hinausgehen
drückte er auf den Lichtschalter und tauchte den Ort wieder in Dunkelheit.
Wilhelm Roth telefonierte gerade mit Dragos,
als er wahrnahm, dass sich in seinen Venen seine Stammesgefährtin bemerkbar
machte.
Erstaunlicherweise schien Claire gar nicht weit
entfernt zu sein. Ziemlich nah sogar, so wie sein Pulsschlag durch die
Blutsverbindung zu ihr in Aufruhr geriet. Er war sich verdammt sicher, dass sie
keine zwanzig Meilen von ihm entfernt war... und ständig näher kam.
Was zum Teufel hatte sie vor?
Er sah auf die Wanduhr in Dragos' Labor und
verzog finster das Gesicht, als er sah, dass es erst kurz nach ein Uhr Mittag
war. Volles Tageslicht also.
Hatten sie und Reichen sich am Ende doch nicht
um Hilfe an den Orden gewandt? Oder hatten die Krieger ihnen aus irgendeinem
Grund die Zuflucht in ihrem Hauptquartier verweigert?
Roth fiel kein Grund ein, weshalb Claire am
helllichten Tag in der Gegend sein sollte - ohne Schutz durch Reichen oder
einem der Bostoner Krieger.
War sie tatsächlich so dumm, ihn schon wieder
auf eigene Faust aufzuspüren?
Roth hätte über so viel Dämlichkeit gelacht,
wenn seine aktuelle Zielvorgabe von Dragos nicht davon abhängig gewesen wäre,
dass Claire den Orden geradewegs in seine Arme führte. Wenn sie allein kam,
würde sie den ganzen Plan vermasseln.
„Sie sind ja plötzlich so überaus schweigsam,
Herr Roth. Stimmt etwas nicht?“, fragte Dragos. Seine Stimme am anderen Ende
der Leitung musste sich gegen einen gewaltigen Lärm im Hintergrund behaupten - ein
metallisches Dröhnen, das den unterschwelligen Zorn, der in dem äußerlich so
ruhigen Vampir tobte, dennoch nicht völlig verbarg.
„Sie haben mir gerade erzählt, alles wäre
bereit, wie wir es besprochen haben.“
„Ja, Sir“, erwiderte Roth. „Aber da
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