Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
ihnen an die Zapfsäule mit Bedienung rollte. Sie
konzentrierte sich völlig auf den dunklen, instinktiven Rhythmus der
Wahrnehmungssignale, die in ihrem Puls tickten, und versuchte, nicht darüber
nachzudenken, dass Roth sie in gleicherweise spüren musste.
Wusste er, wie nah sie in diesem Augenblick
daran war, ihn aufzuspüren? Musste er wohl. Nur die simple Tatsache, dass die
Sonne erst noch untergehen musste, tröstete sie ein wenig, wenn sie daran
dachte, welchem Zorn sie begegnen würde, wenn sie ihm jemals wieder in die
Hände fiel. Er würde sie töten. Aber erst, nachdem er seine Wut an ihr
ausgelassen und sie dazu gebracht hatte, sich zu wünschen, sie wäre tot.
Vom Gedanken an ihn ganz durcheinander, drehte
sich Claire wieder in ihrem Sitz herum, um die Karte zu verstauen.
In diesem Moment bemerkte sie die beiden
Männer, die neben ihr aus dem Wagen stiegen. Sie waren groß gewachsen und ganz
in Schwarz gekleidet, von den Lederjacken mit hochgezogenen Reißverschlüssen
bis zu den Militärhosen, die in ihren Kampfstiefeln steckten. Sie sahen eben in
ihre Richtung, und sie überkam ein Frösteln. Ihre Augen blickten grausam und seltsam
leer.
Außerdem sah sie diese beiden Männer heute
nicht zum ersten Mal.
Claire hatte sie erst vor ein paar Stunden
bemerkt, als Renata, Dylan und sie in einem billigen kleinen Diner im
angrenzenden Städtchen Mittagspause gemacht hatten. Diese schwarzen Klamotten
und die kaum verhohlene Drohgebärde waren kaum zu übersehen. Genauso wenig, wie
die Männer sie jetzt musterten und einen wortlosen Blick tauschten. Der eine
ging zum Fond ihres Wagens und holte etwas aus dem Kofferraum.
Sie zuckte zusammen, als Renata die Fahrertür
öffnete. „Wir werden beschattet.“
„Ich weiß“, sagte Claire, als Renata sich auf
den Sitz fallen ließ, mit einer Hand die Tür zuzog und mit der anderen den
Schlüssel im Anlasser drehte. „Ich hab die vorhin schon mal gesehen. Da haben
sie uns auch schon so angestarrt. Irgendwas stimmt nicht mit denen - mit ihrem
Blick. Der macht mir Gänsehaut.“
„Es sind Lakaien“, bemerkte Renata sachlich und
legte den Gang ein.
Auf dem Rücksitz richtete Dylan sich auf und
sog scharf den Atem ein. „Oh, Scheiße. Mädels, wir haben Gesellschaft.“
„Wissen wir“, erwiderte Renata mit einem kurzen
Blick in den Rückspiegel. „Anschnallen.“
Dylan wollte noch etwas sagen, aber Renata trat
das Gaspedal durch, sodass der Range Rover beim Anfahren eine Gummispur auf dem
Asphalt hinterließ. Mit quietschenden Reifen rasten sie von der Tankstelle auf
die kurvenreiche zweispurige Straße.
In Sekundenschnelle waren die Lakaien hinter
ihnen her.
Claire sah nach hinten, um ihre Entfernung
abzuschätzen. „Die holen schnell auf. Oh, mein Gott, die rammen uns...“
Der plötzliche Ruck beim Aufprall ließ den
Rover über die Straße schlingern. Man musste Renata hoch anrechnen, dass sie
den Wagen nicht verzog und das Fahrzeug wieder ausrichtete, als es auf die
Gegenfahrbahn auszuscheren drohte. Sie beschleunigte und gewann ein paar
Wagenlängen, bevor die Limousine wieder angedröhnt kam und versuchte, sie von
der Straße zu drängen.
„Da vorne rechts kommt eine kleine Ausfahrt“,
sagte Dylan laut, um gegen das Motorgeheul und die hektische Stimmung im
Wageninneren anzukommen.
„Bieg dort ab, Renata. Gleich hinter dem toten
Baumstumpf, siehst dus?“
„Seh' ich“, antwortete Renata, „aber ich will
nicht riskieren, hier abzubiegen, damit sie uns dann mitten im Wald schnappen.
Wart's ab, ich denke, ich kann diese Schweinehunde abhängen.“
„Die schnappen uns nicht!“, insistierte Dylan. „Los,
mach schon! Jetzt!“
Claire warf einen Blick auf die hinter ihr
sitzende Stammesgefährtin mit dem roten Haar und sah Gewissheit in ihrem Blick.
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Weil hier hinten neben mir der Geist einer
toten Stammesgefährtin sitzt, und die sagt mir eben, dass es unsere beste
Chance ist, das hier zu überleben.“
Claire riss die Augen auf.
„Sags doch gleich.“ Renata ging nur so viel vom
Gas, dass sie von der Straße auf den holperigen Waldweg abbiegen konnte, den
Dylan angekündigt hatte.
„Fahr weiter“, wies Dylan sie an. „Einfach
geradeaus, bis ich dir sage, dass du anhalten sollst.“
„Okay.“ Renata jagte den Motor hoch, hinter
ihnen wirbelten Staubwolken und Kieselsteinchen auf.
Die Lakaien in der Limousine mussten scharf
abbremsen und schleuderten beim Abbiegen in die Ausfahrt.
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