Mieses Karma
Raum war menschenleer, die Kuchentafel war abgebaut.
«Das ist Ihr Domizil?», fragte Casanova.
Ich nickte.
«Der Geschmack der Menschen hat sich im Laufe der Zeiten sehr gewandelt», sagte er mit Blick auf unsere Chromstehlampe, und
man merkte ihm an, dass er das nicht für etwas Positives hielt.
Da hörten wir auf einmal Schritte – wer könnte das sein: Alex? Lilly?
Es war Nina. Mit nassen Haaren. Im Bademantel.
Ich japste.
«Wer ist dieses anmutige Wesen?», fragte Casanova.
Ich antwortete nicht, sondern schnaubte nur.
«Sie ist wundervoll», kommentierte er fasziniert.
Ich blickte ihn wütend an.
«Ich habe in den letzten Jahrhunderten nur wenige Menschenfrauen zu Gesicht bekommen und noch weniger mit so einem beeindruckenden
Dekolleté.»
Tatsächlich: Nina hatte den Bademantel genau so weit |89| aufgemacht, dass es für Männer interessant wird, sie aber immer noch denken müssen, die Frau würde ihn unabsichtlich so tragen.
Hatte sie Alex schon verführt, an diesem Tag meiner Beerdigung? Bestimmt! Warum sollte sie sonst im Bademantel hier rumlaufen?
Rasend vor Wut lief ich auf Nina zu und biss in ihren kleinen Zeh, der nach meinem Aprikosen-Duschbad roch. Ich biss so fest
zu, wie ich nur konnte! Ich riss und fetzte wie wild mit meinen Kiefern! Dabei schrie ich: «Hiya, Hiyaaahhhhhhhh!!!!» Es war
ein Gemetzel!
Und natürlich hatte es keinerlei Effekt.
Sie bemerkte mich nicht einmal. Ich war einfach zu klein. Frustriert gab ich auf.
Da betrat Alex den Raum. Er hatte seinen schwarzen Anzug gegen Jeans und T-Shirt getauscht, und seine Augen sahen noch röter und müder aus.
«Wie geht es Lilly?», fragte Nina besorgt.
«Sie spielt mit ihrem Gameboy», antwortete Alex und ließ sich matt in das Sofa fallen. Er schwieg eine Weile, dann fragte
er traurig: «Ob die Kleine das je verwinden wird?»
«Sicher», erwiderte Nina. Es war eher ein hilfloser Versuch, Trost zu spenden, als echte Überzeugung.
Alex schwieg.
«Danke, dass ich hier übernachten kann», sagte Nina und setzte sich zu ihm aufs Sofa.
«Ich kann dich ja schlecht in einem Hotel schlafen lassen», antwortete Alex müde und starrte auf den Boden. Er war an Ninas
Dekolleté herrlich uninteressiert, und ich schämte mich, dass ich mir ausgemalt hatte, er hätte mit ihr schon was angefangen.
«Wenn du Hilfe brauchst. Ich kann noch ein paar Tage Urlaub nehmen», bot Nina an.
|90| «Er braucht keine Hilfe!», rief ich. «Verschwinde wieder nach Hamburg und futter Aale auf dem Fischmarkt! Oder was man da
sonst so macht!»
Alex überlegte eine Weile, dann sagte er: «Es wäre wirklich schön, wenn du noch ein bisschen bleibst. Ich will mich auf Lilly
konzentrieren, und wenn du mir bei dem ganzen Papierkram unter die Arme greifen könntest, würde ich mich freuen.»
«Ich bin gut im Unter-die-Arme-Greifen», antwortete Nina.
Ich schrie: «Dir greif ich auch gleich unter die Arme! Und dann kneif ich zu!»
Alex blickte Nina mit einem bemühten Lächeln an und bedankte sich: «Das ist nett von dir.» Und Nina strahlte: «Nicht der Rede
wert.»
«Sie ist wundervoll», sagte Casanova.
«Was ist sie???», ranzte ich ihn an.
«Wundervoll. Sie ist eine wunderschöne Frau, die einen Mann in seinem Leid nicht alleinlässt», antwortete Casanova und blickte
Nina verzückt an.
Ich versetzte ihm einen heftigen Tritt mit meinem linken Hinterbein.
«Au!», rief er. Und ich war enttäuscht, dass ich ihm nicht so weh getan hatte, dass er «AUUUUUUUU!» schrie.
Alex stand vom Sofa auf. «Ich bring die Kleine ins Bett.»
«Okay», sagte Nina, «dann mach ich uns Abendbrot.»
«Das ist nett», sagte er müde und ging in Richtung Kinderzimmer.
Und ich krabbelte hinterher, während Casanova weiter fasziniert Nina anblickte.
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|91| 19. KAPITEL
«Wollen wir dich jetzt bettfertig machen?», fragte Alex Lilly, die auf ihrem Bettchen Gameboy spielte.
Die Kleine zuckte mit den Schultern. Sie war noch nie eine große Quasselstrippe gewesen, aber jetzt schien sie endgültig die
Sprache verloren zu haben.
Alex versuchte, sich seine Hilflosigkeit nicht anmerken zu lassen, und führte Lilly ins Bad. Ich beschloss, auf die beiden
zu warten, und blickte mich im Kinderzimmer um: Ich sah die Leuchtsterne, die wir an die Decke geklebt hatten. Ich sah die
Unmengen von Spielzeug, von dem Lilly höchstens fünf Prozent regelmäßig nutzte. Und ich sah ein Foto. Es war von mir. Lilly
hatte es an die Wand über ihr
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