Mieses Karma
Bett gepinnt. Sie vermisste mich.
In diesem Moment merkte ich, dass Ameisen sehr wohl über Tränenflüssigkeit verfügen. Doch sie schießt erst dann in die Augen,
wenn der Schmerz unerträglich groß ist – wie der meine in diesem Augenblick. Ich weinte, wie noch nie eine Ameise zuvor geweint
hatte.
Alex und Lilly betraten wieder das Zimmer. Ich riss mich zusammen, Lilly sollte mich nicht weinen sehen. Natürlich hätte sie
mich sowieso nicht weinen gesehen, ich war viel zu klein, aber es ging ums Prinzip.
Alex deckte Lilly liebevoll zu und las ihr «Pippi Langstrumpf» vor. Doch egal, wie lustig die Stellen mit Fräulein Prysselius
auch waren, Lilly lachte kein einziges Mal.
Nachdem Alex drei Kapitel vorgelesen hatte, machte er das Licht aus und blieb so lange neben ihr liegen, bis sie eingeschlafen
war. Man spürte, wie sehr er sich um die Kleine sorgte.
Als er ihr kleines süßes Kinderschnarchen hörte, stand |92| er ganz vorsichtig auf. Er schlich zur Tür, schaute nochmal nach der schlafenden Lilly, atmete tief durch und verließ traurig
das Kinderzimmer.
Jetzt war ich mit meiner Kleinen allein.
Ich krabbelte zu ihrem Gesicht. Es zuckte gar nicht, obwohl meine sechs Füßchen sie sicherlich kitzeln mussten. Sie schlief
tief und fest. Ich flüsterte: «Ich liebe dich», und gab ihr einen kleinen Ameisenkuss auf die Unterlippe.
Dann legte ich mich auf ihre Wange. Das rhythmische Atmen der Kleinen wiegte mich auf und ab, bis auch ich sanft einschlief.
Als ich am nächsten Morgen wieder aufwachte, fühlte ich mich großartig. Ich war ausgeruht, hatte die Strapazen der Flucht
aus den sechs Beinen geschüttelt, und ich hatte endlich einen Plan: Ich würde fortan bei Lilly im Zimmer leben. Dann könnte
ich ihr vor dem Einschlafen stets gut zureden. Auch wenn sie mich nicht verstehen könnte, würde ich dadurch vielleicht ihr
Unterbewusstsein erreichen. So könnte ich sie beschützen, falls Nina tatsächlich ihre neue Mutter werden sollte.
Und sollte ich mal sterben, würde ich eben als Ameise wiedergeboren und wieder zu ihr krabbeln. Ja, das war ein perfekter
Plan für die nächsten Leben.
Ein Plan, der ganze dreieinhalb Minuten Bestand hatte.
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|93| 20. KAPITEL
Bei drei Minuten neunundzwanzig genoss ich es noch, neben Lilly zu liegen. Ihr Gesicht zu beobachten, ihren süßen Kinderduft
zu riechen. Bei drei Minuten dreißig betrat Alex das Zimmer, ging auf uns zu und sah … mich!
Nicht seine Exfrau, nein, eine Ameise, die auf seiner Tochter herumkrabbelte.
«Okay», sagte er leise, «jetzt hab ich’s satt mit euch Biestern.»
Er schnippte mich so sanft von Lillys Wange weg, dass sie nicht aufwachte, ich mich aber nach einem äußerst unsanften Kontakt
mit der Raufasertapete fragte, wie wohl ein Schleudertrauma bei Ameisen behandelt wird.
Lilly murmelte etwas, schlief aber gleich wieder ein. Alex gab ihr ein Küsschen und verließ entschlossen das Zimmer. Höchstwahrscheinlich
würde er nun versuchen, die Ameisen zu killen. Etwas, was ich nicht geschafft hatte. Zwei Tage vor meiner Raumstation-Begegnung
hatte ich noch zu Alex gesagt, dass ich wohl radikaler werden müsste. Ich wollte irgendwann einen Gartenschlauch nehmen und
das Nest ausspülen. Und mir war klar: Dieses «Jetzt hab ich’s satt mit euch Biestern» bedeutete übersetzt: «Ich nehm gleich
den Gartenschlauch!»
Ich schluckte: Die Ameisenstadt würde durch eine Riesenflutwelle zerstört werden. Aber ich beruhigte mich schnell: Was sollte
mich das scheren? Diese Stadt war kein schöner Ort. Und mit etwas Glück gehen die Ameisen ja auch alle ins Licht.
Aber was, wenn nicht?
Was, wenn es das endgültige Ende ihrer Existenz wäre?
|94| Dann wäre ihr Tod einfach nur sinnlos.
Und grausam.
Ich war schwer verunsichert.
Eilig krabbelte ich in den Flur, vorbei an Lillys Rollschuhen und ins Wohnzimmer zu Casanova, der ein paar Krümel vom Leichenschmaus
gefunden hatte und zufrieden futterte. Ich fragte ihn: «Sie kennen doch das Licht, das einem erscheint, bevor man wiedergeboren
wird.»
«Ja. Es ist die Wurst, die einem hingehalten wird.»
«Glauben Sie, dass Ameisen in diesem Licht aufgehen?», fragte ich.
«Ich weiß nicht», erwiderte er, «aber ich kann mir kaum vorstellen, dass so gewöhnliche Kreaturen wie Ameisen in ihrem Leben
gutes Karma sammeln.»
Ich war schwer erstaunt: «Karma?»
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21. KAPITEL
Ich hatte natürlich schon mal von
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