Mieses Karma
hatte ich ihn gehabt, doch leider war meine Mutter die meiste Zeit zu sehr mit
ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen.
Im Laufe der Jahre hatte ich verschiedene Strategien entwickelt, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen: Als Mädchen versuchte
ich sie mit guten Schulnoten zu beeindrucken, ohne Erfolg. Als Teenager revoltierte ich. Und als ich feststellte, dass auch
dies meiner Mutter egal war, suchte ich mir meine Liebe woanders: In Alex fand ich nicht nur einen Liebhaber, sondern auch
einen Freund, der mir Halt gab. Im Gegensatz zu mir kam er aus einem sehr behüteten Elternhaus. Seine Eltern waren schon über
zwanzig Jahre glücklich verheiratet, sie hatten ihre Kinder lieb, und sie blickten stets positiv in die Zukunft. Kurzum, sie
kamen mir vor wie Wesen aus einem Science-Fiction-Roman.
Bei ihnen am Mittagstisch fühlte ich mich wohl und unwohl zugleich. Wohl, weil es so harmonisch war. Unwohl, weil ich stets
an den alten Song aus der Sesamstraße dachte: «Eins von den Dingen gehört nicht zu den anderen.»
Und dieses «Ding» zwischen all diesen harmoniebegabten Menschen war definitiv ich.
Doch Alex gab mir das Vertrauen, dass auch wir eine solche Familie gründen konnten, und zwischendrin hatte ich das sogar geglaubt.
Aber jetzt war meine Menschenfamilie dank meines Fehltrittes zerstört, und ich war Teil einer verdammten Meerschweinchenfamilie.
Nach zehn Tagen sagte Alex endlich zu Lilly: «Nun kannst du mal eins der Meerschweinchen in die Arme nehmen.» Ich |120| drängelte mich sofort an die Tür, kämpfte mich an den anderen Meerschweinchen vorbei – bei einem besonders offensiv kuschelnden
brauchte ich etwas mehr Nachdruck – und ignorierte dabei die Mama, die mahnend sagte: «Du darfst deinem Bruder nicht zwischen
die Beine treten.» 11
Ich fiepte nur kurz zurück, mein Sprechapparat hatte sich noch nicht ausgebildet, um richtig antworten zu können.
«Welches Meerschweinchen soll ich nehmen?», fragte Lilly. Ich warf ihr den treuherzigsten Blick dieser Welt zu.
Alex nahm mich vorsichtig aus dem Käfig. Seine Hände waren so groß wie mein ganzer Körper, und es war das erste Mal seit langer
Zeit, dass er mich berührte. Ich merkte, wie sanft sein Griff war: zärtlich, doch kraftvoll. Wunderbar.
Ich fragte mich, ob er mich als Mensch auch jemals wieder so anfassen würde. Vielleicht würde ich ja wirklich mal als Mensch
wiedergeboren, und er würde wirklich auf mich warten. Würde er mit fünfzig Jahren auch noch so sanfte Hände haben? Und als
ich merkte, mit welcher Sehnsucht mich dieses irreale Gedankenspiel erfüllte, erkannte ich: Ich hatte wohl doch noch Gefühle
für ihn.
Alex legte mich Lilly in die Arme und mahnte: «Vorsichtig.»
Lilly sagte aufgeregt zu mir: «Ich muss dir was zeigen!»
Und zu Alex sagte sie keck: «Und du darfst das nicht sehen.»
Er war etwas erstaunt, ließ sie aber gewähren.
Lilly ging mit mir in eine hintere Ecke des Gartens. Plötzlich musste sie niesen, aber dann legte sie ihren Finger an |121| den Mund, machte ein «Psst!»-Zeichen und buddelte in der Erde – zum Vorschein kam … ein Negerkuss.
«Das ist mein Süßigkeitenversteck», erklärte Lilly stolz.
Ich staunte. Als Mama hatte ich immer gedacht, dass das mit den Geheimnissen erst kurz vor der Pubertät losgehen würde.
«Komm, lass uns den Negerkuss teilen», schlug sie vor. Dies war aus zwei Gründen keine gute Idee: Zum einen konnte ich als
kleines Meerschweinchen keine Negerküsse verdauen, und zum anderen würde Lilly von dem Ding garantiert schlecht werden.
Ich schüttelte heftig meinen Kopf, aber Lilly sagte nur zwischen zwei weiteren Niesern: «Wie du willst. Dann ess ich den eben
allein.»
Das war die schlechteste aller Möglichkeiten. Und da ich nicht wollte, dass Lilly sich den Magen verdirbt, schnappte ich mir
den nach Schimmel schmeckenden Negerkuss und futterte ihn tapfer auf. Eine gute Aktion, wenn man bedenkt, dass ich Lilly dadurch
einiges erspart habe. Keine gute Aktion, wenn man in Betracht zieht, dass ich abends den ganzen Käfig vollkotzte.
Nachdem ich aufgemampft hatte, fragte sie mich: «Weißt du, was mir im Kindergarten immer passiert?»
Ich schüttelte den Kopf. Lilly nahm das wie selbstverständlich. Kinder wunderten sich nicht, wenn Tiere auf sie reagierten.
(Als Erwachsener hingegen fragt man sich ja oft: «Kann mich das Tier verstehen?» Jetzt weiß ich: Die wiedergeborenen Menschen
unter den Tieren
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