Milano Criminale: Roman (German Edition)
Praktisch denkend, wie sie war, fand sie, dass ein Jahr beim Militär dem Jungen nicht schaden könne.
Am Tag der Abreise zur Polizeischule von Piacenza hatte sein Bruder Giovanni ihn in seinem gebrauchten Fiat 500 zum Bahnhof gefahren.
Sie schwiegen, die sinnliche Stimme von Jula de Palma erfüllte den Innenraum. Das Lied Tua hatte den Ruch des Verbotenen, nachdem der Vatikan es gerade als Skandal gebrandmarkt hatte aufgrund eines anstößigen Auftritts der Sängerin beim Festival von San Remo. Die Unterhaltung stockte, doch die zwei Brüder hatten sich noch nie viel zu sagen gehabt.
Die Ausbildung bereitete Antonio wenig Probleme. Nachdem er zwischen Ligera-Banden, Rowdys und kleinen Straßenganoven aufgewachsen war, hatte er das ideale Grundtraining, sowohl in Sachen Gewaltvermeidung als auch Gewaltanwendung. Marschieren, Liegestütze, selbst die unzähligen Militärzeremonien machten ihm nicht viel aus. Alles diente der Stärkung seiner mentalen Disziplin. Nur das Schießen war ihm neu; nicht, dass er noch nie eine Waffe gesehen hätte, im Gegenteil. Kleine Jungs mit Schießeisen hatte es genug gegeben, dort in der Mailänder Peripherie zwischen dem Giambellino und der Piazza Brescia, wo man auf der Straße aufwächst unter den Schikanen der älteren Jungs, den zu leistenden Mutproben und der Bewunderung für all jene, die mit einer Ramme im Hosenbund und einem Bündel Geldscheine in der Hand herumliefen. Diese weitverbreitete Vorstellung des sozialen Freikaufs hatte die Jungs um Antonio allerdings nicht verführen können. Die katholische Jugendbewegung hatte ihn davor bewahrt, in schlechte Gesellschaft zu geraten.
»Für irgendwas muss es ja schließlich gut sein, eine Betschwester als Mutter zu haben«, sagte er sich.
Viele Jahre als Messdiener, in denen er den alten Damen das silberne Tellerchen unters Kinn hielt, hatten ihn wahrscheinlich vor dem Beccaria bewahrt und gleichzeitig auf die andere Seite geschoben, in Richtung derer, die die errungene Ordnung um jeden Preis bewahren wollten. Wenn nötig auch mit Hilfe der Schlagstöcke.
Er hatte nie Waffen besessen außer einer Steinschleuder, von Messern ganz zu schweigen. Der Umgang mit dem Messer ist eine edle Kunst, die dem vorbehalten ist, der sie beherrscht, während alle anderen sich bloß wie Idioten in die Hand schneiden. In der Ausbildung lernte er, eine Beretta innerhalb weniger Sekunden auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, mit dem Gewehr auf ein Ziel und auf bewegliche Pappfiguren zu schießen und dabei noch durch den Schlamm zu robben. Sie schien Ewigkeiten zu dauern, dabei waren es nur wenige Jahre, die ihn jedoch grundlegend veränderten. Antonio wurde zum Bullen: Er stand im Morgengrauen auf, rasierte sich gründlich, ging hinaus, um die Bösen zu fangen, rief jeden zweiten Abend vom Münztelefon im Kasernenflur aus zu Hause an. Vaterland und Familie.
Am Telefon sprach er hauptsächlich mit seiner Mutter; der Vater beschränkte sich auf ein paar Floskeln, während der Bruder im Versuch, das peinliche Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken, immer dasselbe langweilige Zeug erzählte: Tratsch von den Freunden aus der Bar, die letzten Spiele von Inter Mailand. Solche Sachen.
Die ersten Monate in Uniform waren ernüchternd. Nach der Ausbildung wurde Antonio übergangslos nach Rom geschickt. Streife fahren, Nachtdienste, Überwachung von öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen – die damals in der Hauptstadt an der Tagesordnung waren – und Ordnungsdienst im Stadion. Halbe Tage mit dem Helm auf dem Kopf herumzustehen und von der einen oder anderen Seite Prügel zu beziehen kann lehrreich sein, doch zunehmend machte sich der Frust in ihm breit, und er begann an seiner Bauchentscheidung zu zweifeln. Bis nach vierzehn nicht gerade einfachen Monaten endlich die Versetzung nach Mailand erfolgte. Es fehlte an Personal, und der Standort war nicht beliebt: Heißes Pflaster, hieß es. Die meisten wollten so schnell wie möglich wieder von dort weg. Vor allem seine süditalienischen Kollegen, und das war die überragende Mehrheit; nur wenige trugen im Norden die Uniform. Und einer von ihnen war Agente Antonio Santi, der glücklich wie Napoleon bei seiner Rückkehr aus dem Exil auf Elba nach Hause kam.
5
Nach einer nicht enden wollenden Fahrt im heißen, ruckelnden und überfüllten Eilzug erreicht Antonio Milano Centrale und geht zu Fuß zur Questura in der Via Fatebenefratelli, ohne zu Hause vorbeizuschauen. Er ist
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