Milano Criminale: Roman (German Edition)
denn?«
Santi stützt die Ellenbogen auf den Tisch.
»Wenn es nicht der Student war«, überlegt er, »bleiben noch die Bauleute, die in dem Gebäude gearbeitet haben, oder?«
Der Commissario der Mordkommission runzelt griesgrämig die Stirn.
»Genau. Wir haben sie den ganzen Nachmittag ausgequetscht, ihre Wohnungen von rechts auf links gedreht und ihre Arbeitskleidung unter das Mikroskop gelegt: kein Blut, nirgends, was bei diesem Blutbad einfach unmöglich ist.«
»Was haben sie gesagt?«
»Wenig bis nichts. Sie arbeiten im Erdgeschoss, zwischen Holzbrettern und Staubwolken, wo sie den Fußboden erneuern. Was sie berichtet haben, klingt logisch und läuft alles auf die Grundaussage hinaus: Der Höllenlärm des Presslufthammers hat verhindert, dass sie irgendetwas mitbekommen haben. Du erinnerst dich an das Getöse.«
»Schrecklich, ja.«
»Wir haben das mal zeitlich sortiert: Die Bauarbeiter sind um zwölf in die Mittagspause gegangen. Der Mörder hat also entweder den Lärm genutzt, um eventuelle Schreie des Mädchens zu übertönen, oder danach die sommerliche Stille der Mittagspause, auch wenn ich das für unwahrscheinlich halte. Bei dem Dröhnen des Presslufthammers konnte die Frau so viel schreien, wie sie wollte, keiner hätte sie gehört.«
»Dann war also alles genau geplant?«
»Vielleicht auch nur der Zeitpunkt.«
»Hast du mit ihren Eltern gesprochen?«, fragt Antonio.
»Natürlich, ich wollte ja deren Version hören. Aber wie du weißt, sind sie am Boden zerstört vor Trauer, so dass ein paar Cousins die Identifizierung der Leiche übernehmen mussten, um den Eltern und den zwei Schwestern den zusätzlichen Kummer zu ersparen.«
Antonio bestellt beim Kellner zwei Grappa. Seine Stirn liegt in Falten, er schaut in die Ferne.
»Woran denkst du?«
»Daran, wann das Verbrechen entdeckt wurde.«
»Und?«
»Sieh mal, ich bin mit einer erzkatholischen Mutter aufgewachsen.«
»Und das bedeutet?«
»Hast du die Patres gesehen an dem Tag? Acht von ihnen waren in der Nähe und schnüffelten herum. Acht. Kommt dir das nicht komisch vor?«
»Es ist eine katholische Privatuni. Da finde ich es normal, wenn Dozenten in Talaren kommen und wissen wollen, was in ihrer Einrichtung vonstattengeht.«
»Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Wie kommst du darauf?«
Santi schüttelt den Kopf.
»Ist nur so ein Gefühl.«
»Das reicht nicht, um den Schuldigen zu finden.«
»Ich weiß. Was machst du jetzt?«
Piazza leert seinen Grappa und zündet sich eine Zigarette an, bevor er antwortet.
»Ich werde wieder von vorn anfangen und versuchen, die letzten Lebensstunden des Opfers in allen Einzelheiten zu rekonstruieren.«
Der Commissario hält Wort. Er und die Leute von der Mordkommission arbeiten Tag und Nacht an dem Fall, gehen jeder Spur nach und graben auch in Sandras Privatleben, um herauszufinden, wer ihren Tod gewollt haben könnte. Doch sie finden nichts. Je mehr sie nach heiklen, perversen Details suchen, desto klarer zeichnet sich das Bild einer anständigen jungen Frau.
»Ich weiß einfach nicht, wo ich noch suchen soll, Santi«, vertraut ihm der Kollege eines Morgens an, als sie zusammen einen Espresso trinken.
»Wir haben das Leben des Opfers bis in jeden Winkel durchkämmt, ohne irgendein Ergebnis. Abschluss mit Bestnote, Angestellte bei Montedison auf dem Piazzale Cadrone 5, Personalabteilung. Umgab sich ausschließlich mit anständigen Leuten, kein Verlobter, dreimal die Woche half sie freiwillig als Krankenschwester beim Roten Kreuz. Mit anderen Worten: nichts.«
»Kann das sein?«
»Leider ja. Anfangs dachten wir, es könne sich um ein Vergehen aus Leidenschaft handeln. Sie war zwar eine schöne Frau, aber keine auffällige Erscheinung. Ihre Bekannten berichten, dass sie ihre Figur unter weiter Kleidung versteckte und niemals eine Affäre hatte. Sie war in jeder Hinsicht perfekt. Vorzeigestudentin, Vorzeigetochter, Vorzeigefreundin. Makellos.«
»Jeder hat ein Geheimnis.«
Piazza sieht Santi müde an.
»Vielleicht. Aber nicht diese Sandra: Sie war ein komplett untadeliges Mädchen, wohnte bei ihren Eltern, frequentierte keine speziellen Kreise und hielt sich, soweit wir wissen, rein zufällig in der Toilette der Universität auf. Sie musste am Morgen noch ein paar Erledigungen machen, bevor sie mit Mama und Papa nach Korsika in Urlaub fliegen wollte. An der Cattolica kam sie wohl nur vorbei, um ein paar Studienunterlagen für Jura abzuholen, worum eine Freundin sie gebeten
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